"Schön wie ein Barnett Newman"

■ Und 24mal Walter Benjamin in der Sekunde: Wer Welterfahrung sucht, schaut sich Filme an oder klickt sich durch das Internet. Ein Gespräch mit dem schottischen Videokünstler Douglas Gordon über filmische Real

In Ihren Installationen dauert Hitchcocks „Psycho“ 24 Stunden, „Der Exorzist“ wird mit religiösen Melodramen aus den 40er Jahren gemixt, und Lehrfilme über Hysterie werden wie Slapsticknummern à la Charlie Chaplin präsentiert. Was reizt Sie daran, Filme so völlig aus dem Zusammenhang zu reißen?

Douglas Gordon: Unsere Generation sieht sich Filme nicht mehr ausschließlich im Kino an, sondern zu Hause, vielleicht vom Bett aus, vielleicht sogar in Begleitung. Man nimmt das Medium nicht länger wahr, indem man sich Bilder einverleibt, aber es bleibt immer noch eine feine und intime Erfahrung. Diese Beziehung hat jetzt eben auch mit dem Ambiente zu tun, in dem sich dein Fernsehapparat befindet.

Ich denke dabei an die Figur des Behinderten in Tennessee Williams' „Glasmenagerie“, dessen einziges Vergnügen darin besteht, ins Kino zu gehen. Er benutzt Film, um seiner Wirklichkeit zu entkommen. Das ist für mich der Augenblick, wo die Idee von Zeit ins Spiel kommt: Indem er für zwei Stunden Filme anschaut, ist er zumindest für diese zwei Stunden aus dem eigenen Schlamassel heraus. Es geht darum, wie man Konzentrationsfähigkeit verlagert, und auf diese Weise läßt sich auch Zeit als eine Art Mechanismus offenlegen.

Von dem einem das Kino Erleichterung verschafft?

Ob als Erleichterung oder als Herausforderung – es ist eine Übertragung des realen Lebens in Phantasie, die quasi von einem Ort zum anderen führt. Nur macht die Flucht aus der Wirklichkeit die Lage in der Regel danach meistens noch schlimmer.

Im Kino verändert sich filmische Wirklichkeit von Minute zu Minute. Sie reduzieren dagegen die Menge der Information enorm. Werden die zwei Stunden Kino als Erlebnis in Ihrer Bearbeitung nicht sehr leer?

Für mich stellt sich die Information, die ein Film liefert, als Bewegung dar. Selbst in kleinsten Teilen von Hitchcocks „Vertigo“ – wenn Jimmy Stewart etwa zu dem Schild am Hotel Empire heraufschaut – wird sehr rasch zwischen normaler Geschwindigkeit und Verlangsamung gewechselt. Überhaupt fällt der Unterschied zwischen Normaltempo und Slow-Motion niemandem mehr auf. Der Trick hat sich etabliert, wir haben uns daran gewöhnt.

Wir können Slow-Motion bis in die eigenen physischen Bedingungen hinein nachvollziehen, etwa bei traumatischen Situationen. Menschen, die in einen Autounfall verwickelt waren, können sich daran wie in Zeitlupe erinnern, weil das Adrenalin nach dem Unfall so schnell durch den Körper geflossen ist, daß das Gehirn die Ströme nicht mehr in der gleichen Geschwindigkeit umsetzen kann – die Wahrnehmung erscheint also langsamer. Das ist wiederum eine faszinierende Vorstellung, die sich von der physischen Empfindung in eine psychologische Sichtweise umwenden läßt: Das traumatische Erlebnis ist eine Sache der Wahrnehmung. Es hängt mit der Art zusammen, wie sehr eine Person mit dem Ereignis verbunden ist. Ein Beispiel: Draußen vor dem Fenster passiert ein Autounfall, dem du zusiehst, während du telefonierst; mit dem anderen Auge verfolgst du gleichzeitig das Fernsehprogramm, im anderen Zimmer läuft der CD-Player.

Wenn man all diese Informationen als verschiedene Frequenzen innerhalb eines Zeitabschnitts liest, der wiederum einen Moment in deinem Leben darstellt – wohin bringt dich das in bezug auf deine moralische Sicht der Welt? Schließlich machst du binnen kürzester Frist eine Synthese aus all diesen Ereignissen – wie aber wirken Moral und Zeit sich unter diesen Bedingungen aufeinander aus? Wir sind es gewöhnt, moralische Fragen als Zeiterscheinungen auf ein Jahrhundert ausgedehnt zu betrachten, um Unterschiede festzustellen. Aber was ist, wenn am Ende alle Dinge gleichzeitig passieren?

Dann bricht die Hölle los?

Nein, das nicht. Aber wenn sich moralische Vorstellungen binnen eines Jahrhunderts verändern – was ja auch nur ein Fingerschnipp ist –, dann bleibt für mich die Frage: Was verändert sich mit dem tatsächlich konkreten Fingerschnippen, in zwei Minuten oder auch nur 30 Sekunden? Jedesmal, wenn etwas geschieht, müßten doch deine gesamten Moralvorstellungen explodieren. Das interessiert mich.

Schon frühe Filme bestanden aus einfachen Bewegungsabläufen. Das Interesse am Film war damals nicht künstlerisch, sondern vorrangig wissenschaftlich begründet. Im Film sollte die Abfolge von Augenblicken sichtbar gemacht werden. Lebt Ihre Arbeit mit Film von der gleichen Anziehungskraft der physischen Präsenz?

Mir ist eher die physische Präsenz des Sichtbaren wichtig. Ich glaube, daß sich in unserer Generation, die mit Film und Video aufgewachsen ist, jeder über die berühmten Brüche zwischen den einzelnen Bildern im klaren ist. Jede Sekunde Film besteht aus 24 Bildern und den schwarzen Löchern dazwischen. Was aber passiert, wenn man die Löcher ein wenig ausdehnt? Der Film liefert einem die Möglichkeit, über das Erzählte zu phantasieren, während er zugleich diese Lücken bietet, in denen man über etwas völlig anderes nachdenken könnte. Das ist ein wichtiger Ansatz im Denken unserer Generation. Die vielen kleinen Leerstellen müssen sich doch zu etwas Neuem addieren lassen, so wie George Bataille sich das vorgestellt hat. Bei ihm gibt es die Idee, daß man abends mit einem winzigen Rest an Energie zu Bett geht. Aber diese Restenergie besitzt auch der Nachbar, der Mensch nebenan, im Stockwerk über dir usw. Die Frage ist: Was kann man innerhalb einer Gesellschaft mit dieser Energie anstellen, wenn man sie bündelt? Insofern bilden Film und Video für mich immer noch eine gewisse gesellschaftliche Bedrohung, mit der man sich auseinandersetzen kann.

Das klingt, auf den Film übertragen, als würde im Kino gleichzeitig mit der Projektion noch zusätzliche Zeit geschaffen?

Ganz genau. Mir geht es dabei nicht so sehr darum, wie nun MTV funktioniert. Aber wenn du vor dem Bildschirm sitzt und bloß das blaue Testbild auf dem Kanal für den Videorecorder anstarrst, dann kann dieser Eindruck ebenso schön sein wie ein Barnett Newman oder Francis Bacon. Du schaust es dir an, und dein Gehirn ist irgendwo anders beschäftigt.

Das ist eine sehr romantische Vorstellung – so wie der Ozean auf einem Caspar-David-Friedrich- Gemälde dem Betrachter die Möglichkeit geben sollte, in der unendlichen Erhabenheit des Meeres mit abzutauchen. Bei den Filmen, mit denen Sie arbeiten, handelt es sich allerdings um Western, Krimis etc. Jedes Bild hat dann schließlich diese Qualitäten. Wie soll man da überhaupt noch bestimmte Bilder auswählen?

Für Programmierer ist das kein Problem. Am Computer nennt man so etwas „Multitasking“, und man hat hochentwickelte Prozessoren. Menschen, die sich im 18. oder 19. Jahrhundert Gemälde angeschaut haben, waren allein mit dem Bild beschäftigt. Anders als Marcel Proust oder Walter Benjamin hatten sie noch keine Vorstellung davon, daß auch Gerüche, Klänge und überhaupt jede Sinnenswahrnehmung Teil ihrer Erfahrung beim Betrachten von Bildern sind. Heute hast du die Erfahrungen, von denen Benjamin als Flaneur geschrieben hat, in jeder Vierundzwanzigstelsekunde. Damit ist aber Erfahrung an sich nicht unmöglich geworden, die Verarbeitung von Eindrücken funktioniert nur schneller. Mit ISDN und Internet, Video und CD sind wir auf einem sehr euphorischen Level der Wahrnehmung angekommen. Darin liegt eine gewisse Ähnlichkeit zu der Art, wie man früher vermutlich auch die Gemälde von Caspar David Friedrich betrachtet hat.

Bei Ihren Installationen werden die Zuschauer auch davon in den Bann gezogen, daß Sie die Videos stets größer projizieren, als die Menschen und Dinge in Wirklichkeit sind.

Ja, aber gleichzeitig sind die Installationen ein bißchen kleiner als bei einer Filmvorführung im Kino. Natürlich möchte ich die Verführungskraft des Kinos nutzen, aber trotzdem auch etwas Distanz zum Medium aufbauen. Ansonsten finde ich nicht, daß Verführung etwas Schlechtes bedeutet.

Bei „24 Hours Psycho“ in Berlin war es wichtig, daß das Publikum kurz mal zur Vorführung hereinschauen, dann wieder verschwinden und irgendwann vielleicht noch einmal zurückkommen konnte. Es war nicht mehr eine Frage des Films und der Erzählung, sondern ein auf das Kino als Raum bezogenes Happening – eine Art Hitchcock im Alltagsleben.

In der 24-Stunden-Vorführung wird „Psycho“ vor allem zu einem Beispiel für die Unbeständigkeit seitens der Zuschauer. Wie auch immer, jeder weiß doch sowieso, was in dem Film passiert. Wenn man allerdings bei dieser zugespitzten Fassung zuschaut, dann löst sich der Kontakt zwischen den einzelnen Geschehnissen. Mir geht es vor allem um diesen Bruch – weil die Dinge ihre Zuordnung verlieren, kann man sie frei betrachten und sich sein moralisches Urteil darüber bilden.

Am Ende läuft Film als lose Aneinanderreihung auf eine ziemlich existentialistische Idee hinaus: Alles bleibt verbunden und unverbunden zugleich – so wie man sich selbst von Tag zu Tag neu vor dem Badezimmerspiegel begegnet?

(auf deutsch): Genau... Mal siehst du gut aus, mal fühlst du dich halb tot. Interview: Harald Fricke