Möglichst viele Möglichkeiten

■ Die angewandte Wahlarithmetik für taktische Wähler enthüllt: Alles ist möglich. Aber die Große Koalition bleibt dennoch wahrscheinlich

Je länger der Wahlkampf dauert, desto rätselhafter wird der Ausgang der Wahl. Anders als bei vorhergehenden Bundestagswahlen ist die Wahl 98 so offen wie noch nie. Das liegt zum einen an der Annäherung der großen Parteien SPD und CDU/CSU, zum anderen aber daran, daß der Einzug diverser kleinerer Parteien keineswegs sicher ist.

Was passiert wann? Die Möglichkeiten sind fast unendlich. Bei dieser Wahl gibt's für jede taktische Wahl eine wenigstens halbwegs passable Begründung. Man muß nur wissen, was man am Ende will.

Sollten neben Union und SPD auch PDS, Grüne und FDP allesamt in den Bundestag einziehen, steigen die Chancen für die Große Koalition. Denn je mehr Wählerstimmen sich auch in Mandaten widerspiegeln und nicht als „verschenkt“ unter der Fünfprozent- hürde oder wegen zu weniger Direktmandate verlorengehen, desto mehr Prozentpunkte sind für eine Mehrheit im Bundestag notwendig. Beispiel: Erreicht entsprechend der letzten ZDF-Umfrage die SPD 39,5 und die Union 37,5 Prozent, die Grünen 6, die FDP 5,5 Prozent und ist die PDS trotz nur 4,5 Prozent dank mindestens dreier Direktmandaten im Bundestag vertreten, ist rein rechnerisch nur die Große Koalition möglich. Rot-Grün fehlten zur Kanzlermehrheit rund zehn Mandate, die derzeitige Regierung hätte etwa 30 Abgeordnete zuwenig. Allerdings könnte die PDS auch dafür sorgen, daß uns eine Fortsetzung des jetzigen Regierungsbündnisses erspart bleibt. Wenn nämlich Union und FDP zwar über mehr Mandate verfügen als SPD und Grüne, aber gegen SPD, Grüne und PDS dennoch keine eigene Mehrheit erzielen, bleibt auch dann nur die Große Koalition.

Verbleiben PDS oder FDP unter der Fünfprozentmarge, steigen die Chancen für Rot-Grün. Ohne die PDS müßten Sozialdemokraten und Grüne nur prozentual mehr Stimmen erhalten als Union und FDP – laut den letzten Umfragen hätten Sozialdemokraten und Grüne gemeinsam rund zehn Mandate mehr als notwendig. Ohne die FDP im Bundestag fehlt der CDU/ CSU wiederum nicht nur der Koalitionspartner. In diesem Fall müßten die Konservativen zusammen mit der PDS mindestens genauso viele Stimmen erhalten wie SPD und Grüne, um wenigstens eine Große Koalition zu erzwingen – schließlich gilt es als ausgemacht, daß sich Rot-Grün nicht von der PDS tolerieren lassen will.

Fliegen dagegen die Grünen aus dem Parlament, könnte es für die bestehende Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP reichen, solange SPD und PDS nicht mehr Mandate als diese erhalten. Andernfalls bleibt nur die Große Koalition.

Bleiben die unwahrscheinlichen Möglichkeiten. Wenn gleich zwei der kleineren Parteien den Bundestag verlassen müssen, sinken in jedem Fall die Chancen für ein rot- schwarzes Elefantenbündnis. Sollte es zum Beispiel PDS und FDP erwischen, ist Rot-Grün so gut wie sicher. Fallen Grüne und PDS durch den Rost, darf Kohl mit der FDP weiter regieren. Nur für den höchst unwahrscheinlichen Fall, daß Grüne und FDP auf der Strecke bleiben und einzig die PDS in den Bundestag einzieht, ist eine Große Koalition vorprogrammiert – es sei denn, SPD oder Union erzielen wegen der vielen „verschenkten Stimmen“ die absolute Mehrheit der Mandate. Beispiel: Die Union kommt auf 39 Prozent, die SPD auf 41 Prozent. Die PDS erzielt 5,0 Prozent, Grüne und FDP aber nur je 4,9 . Dann wären nur 85 Prozent der abgegebenen Stimmen ausschlaggebend für die Mandatsverteilung im Bundestag.

Kaum zu erwarten, aber dennoch nicht völlig auszuschließen ist schließlich, daß alle drei kleinen Parteien dahingerafft werden. Dann wäre die Regierungsbildung in Bonn denkbar klar: Wer von Union und SPD mehr Wählerstimmen erhält, darf künftig allein regieren.

Und was lernen wir daraus? Wenn Sie Wolfgang Schäuble stärken möchten, dürfen Sie nicht die Union wählen. Wer die Große Koalition will, macht sein Kreuz bei der PDS. Freunde von Rot-Grün wählen grün, damit die die Fünf- prozenthürde überspringen. Freunde von Kohl entscheiden sich aus dem gleichen Grund für die FDP. Stört Sie Kandidat Schröder, schwärmen Sie aber für Lafontaine? Da wären die Grünen die richtige Partei. Wer Kohl nicht mehr mag, hat die Auswahl zwischen SPD und den Grünen. Sollte aber Ihr Favorit rein zufällig auch der Spitzenkandidat einer Partei sein, können Sie sich jegliche Taktik sparen – und darauf hoffen, daß Ihnen die taktischen Wähler nicht einen Strich durch die Rechnung machen. Klaus Hillenbrand