Gräßlich aufgeblähte Backen, so groß wie Tennisbälle

■ Im Jemen wird seit Hunderten von Jahren Kaht gekaut. Die Volksdroge, die ein natürliches Amphetamin enthält, putscht auf, vertreibt den Hunger – und untergräbt die Arbeitsmoral

„Tausend Rial und noch ein Bündel. Na los, ein Wort unter Männern“. Im mittäglichen Gewühl des Marktes von Sanaa feilscht Mahjoub um die tägliche Ration Kaht. Auf dem Boden und den Tischen türmen sich die zu Bündeln geschnürten sattgrünen Zweige. Prüfend läßt der 32jährige Kraftfahrer die zarten Blätter durch die Finger gleiten und diskutiert mit den Händlern Frische und Qualität der Ware. Über Sorte und Herkunft von Kaht fachsimpeln Jemeniten so leidenschaftlich wie europäische Weinkenner ber Anbaulagen und Öchslegrade.

Drei Stunden später sitzen Mahjoub und seine Kollegen in einer lautstarken Runde, zerteilen mit ihren Dolchen die Äste und kauen bis zum frühen Abend junge Kaht-Blätter. Kaht, die in Ostafrika und Jemen verbreitete Verwandte der Kokapflanze, ist das beliebteste und meist auch einzige Freizeitvergnügen im Jemen. Frauen und Männer, arm und reich – Kaht kauen einfach alle. Auch Mahjoub, obwohl er nach fünfzehn Jahren im Ausland eigentlich nicht wieder anfangen wollte.

„Aber wenn du hier nicht kaust, bist du völlig isoliert“, erzählt er. „Also habe ich zwei-, dreimal die Woche gekaut, um meine Freunde zu sehen.“ Das war vor fünf Monaten, und mittlerweile verstaut er in seiner linken Wange schon wieder eine Kaht-Menge vom Volumen eines Tennisballs. „Ich kann länger fahren und werde nicht müde.“

Dafür sorgt der Wirkstoff Cathinon, ein natürliches Amphetamin, das aufputscht, gesprächig macht und den Hunger vertreibt, aber keine Gewöhnung hervorruft. Eigenschaften, die Kaht während des Somalia-Einsatzes 1992/93 auch unter amerikanischen GIs beliebt machte. Seitdem gibt es Kaht auch in den USA vermehrt auf dem Straßenmarkt zu kaufen. In Deutschland wurde erst im Februar dieses Jahres das bis dahin völlig legal als „Salat“ importierte Grünzeug durch eine Änderung des Betäubungsmittelgesetzes in den Rang einer verbotenen Rauschdroge erhoben.

Für die fröhliche Kaht-Runde um Mahjoub sind solche Probleme weit weg. Kaht wird im Jemen traditionell, seit Hunderten von Jahren, gekaut. Von Gesundheitsgefahren wollen die vier Kauer nichts wissen – im Gegenteil: „Den Ast hier noch“ prahlt Mahjoubs Kollege Muhammad, „dann kann ich heute Nacht viermal.“

Der ehemalige Erziehungsminister Ahmed Jabr al-Afif findet solche Sprüche überhaupt nicht witzig. Schauerliche Karikaturen von Kaht-Kauern mit gräßlich aufgeblähten Backen empfangen den Besucher in den Räumen der von ihm begründeten jemenitischen Anti-Kaht-Liga. Seinen Lebenstraum – der Jemen als ein entwickeltes Land nach dem Vorbild der Golf-Monarchien – sieht der 70jährige Ex-Politiker vom Kaht bedroht. 14 Millionen Arbeitsstunden gingen täglich in den Kaht-Sitzungen verloren, rechnet er vor; immer mehr Landwirte bauten statt Gemüse die volkswirtschaftlich unproduktive Droge an und verwendeten dabei auch noch hochgiftige Pestizide.

Doch ob die jemenitischen Bergbauern auf ihren steilen, nur mühsam von Hand zu bewirtschaftenden Terassenfeldern wirklich eine Chance gegen billige Importlebensmittel hätten, ist ziemlich fraglich. Wo die Arbeitsplätze herkommen sollen, auf denen die beim Kaht verbrachte Zeit produktiv gemacht werden könnte, ebenfalls. Lediglich was die hohen Preise für das Kaht angeht, stimmen auch überzeugte Konsumenten den Argumenten der Kaht- Gegner zu. Fünf bis fünfzehn Mark kostet eine Tagesration, denen auch inklusive Zweitjobs und Nebeneinnahmen selten mehr als drei- bis vierhundert Mark Monatseinkommen gegenüberstehen. Oft verschlingt Kaht mehr als die Hälfte des Familienbudgets. Auch Mahjoub würde lieber mehr Geld für seine geplante Hochzeit zurücklegen. „Ich versuche immer wieder, nicht zu kauen, um Geld zu sparen. Aber bei jedem Besuch mußt du etwas mitbringen, und überall stolperst du darüber. Man sollte es besser verbieten.“

Doch am heißen Eisen eines Kaht-Verbots mag sich kein Politiker die Finger verbrennen. Und daß auch zu Kabinettssitzungen Kaht gehört, ist in Sanaa ebensowenig ein Geheimnis wie die Plantagen einflußreicher Stammespolitiker, ohne deren Unterstützung das Regime von Präsident Ali Abdallah Saleh kaum überleben könnte. „Die wirklich großen und hochprofitablen Plantagen sind in der Hand einer kleinen Schicht, höchstens fünf Prozent der Bevölkerung“, beschwert sich der Kaht- Gegner al-Afif. Rüdiger Mehltau, Sanaa