■ Wahl: Eine kleine Empfehlung, nicht bloß auf die Parteien zu achten
: Lob der Erststimme

Alle Parteien wollen unsere Zweitstimme. Klar, denn die Zweitstimme entscheidet über die Mehrheiten im Bundestag. Für die Erststimme, mit der man einen Abgeordneten direkt wählt, scheint sich kaum jemand zu interessieren. Die großen Parteien betrachten sie als kostenlose Dreingabe, die unterm Strich ein paar Überhangmandate einträgt; und die kleinen Parteien haben – außer der PDS – ohnehin keine Aussicht, einen ihrer Direktkandidaten durchzubringen.

Für die Wähler aber eröffnet die Erststimme die Chance, die Zusammensetzung des Bundestages nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zu bestimmen: Einfluß zu nehmen nicht nur auf Fraktionsstärke, sondern auf die konkreten Politiker. Hier bietet sich eine Chance, den Parteien ein kleines Stück ihrer Allmacht zu entwinden. Diese Chance nutzt man aber nur, wenn man die Erststimme nicht gewohnheitsmäßig nach Parteipräferenz vergibt.

Wenn die Mehrheit der Wähler so handelte, würde sich der Bundestag verändern. Wir hätten mehr Abgeordnete, die sich eine eigene Meinung leisten – Politiker, die sich den lähmenden Fraktionszwang nicht bieten ließen. Dann gäbe es auch Debatten, die zu verfolgen sich lohnt – was sonst nur vorkommt, wenn die Fraktionsgranden die Abstimmung ausnahmsweise freigeben. Solche Politiker würden sich auch stärker um ihre Wähler bemühen und nicht nur um einen aussichtsreichen Platz auf der Landesliste ihrer Partei.

Eigenwillige Politiker bekommen wir aber nur, wenn auch wir eigenwillig entscheiden. Warum sollte ein SPD-Wähler nicht auch mal den Direktkandidaten der CDU wählen, wenn der ihn mehr überzeugt als der SPD-Kandidat? Warum sollte eine CDU- Wählerin nicht auch mal die Direktkandidatin der SPD wählen, der Grünen, der FDP oder – unglaublich, aber möglich – die der PDS?

Mit dem herkömmlichen Stimmensplitting hat das nur der Form nach zu tun. FDP-Wähler etwa geben ihre Erststimme oft dem Unionskandidaten, um die gewünschte Koalition zu stärken. Bündnisgrüne wollen, daß ihre Wähler im Osten SPDler wählen, um den Wiedereinzug der PDS zu verhindern. Solches Taktieren ist zwar legitim, doch es macht aus der Erststimme eine schlechtere Zweitstimme. Vertan wird die Möglichkeit, sich bewußt für einen Kandidaten zu entscheiden. Freilich ist die Wahl nicht selten eine Qual. Oft kennt man die Direktkandidaten kaum, weil diese bisher nicht groß auffielen. Man kann auch keinen von ihnen wählen. Die Erststimme ernst nehmen, indem man sie nicht vergibt: Das wäre kein schlechter Anfang. Paul Behrens

Der Autor arbeitet als Hörfunkredakteur in Köln