Kompromißbereiter Kämpfertyp

Ob rot-grüne Regierung oder Große Koalition, die Berliner Frauensenatorin Christine Bergmann ist eine feste Größe im Schattenkabinett von Gerhard Schröder  ■ Von Dorothee Winden

Ein Samstag morgen in Berlin-Kreuzberg. Vor der Marheineke-Markthalle stürmt ein zahnloser, unrasierter Fußballfan auf Christine Bergmann zu, die Berliner Senatorin für Arbeit und Frauen. „Schröder ist Scheiße! Ich wähl' die PDS!“, brüllt der ältere Mann, dessen Jeansjacke unzählige Fanaufkleber von Bayern München zieren.

Die zierliche SPD-Politikerin hält sich den Mann freundlich, aber bestimmt vom Leib und wendet sich einem älteren Ehepaar zu, das eigens zum Wahlkampfstand an diesem sozialen Brennpunkt gekommen ist, um mit der prominenten Politikerin zu sprechen. Er ist seit 44 Jahren SPD- Mitglied, sie nur neun Jahre weniger. „Ich mache mir große Sorgen um die Jugend“, sagt die Rentnerin, „wegen der schlechten Zukunftschancen.“ Von einer SPD-Regierung erhoffen sich beide, die selbst gut abgesichert sind, daß etwas für die getan wird, die mit sehr geringen Renten auskommen müssen.

Da sind sie bei Christine Bergmann an der richtigen Adresse. „Es muß ein Rentenkorrekturgesetz verabschiedet werden, das für alle gilt“, sagt sie. „Das sind wohlverdiente Ansprüche. Da kann mir niemand sagen, das ist nicht finanzierbar.“ Im Schattenkabinett von SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder ist die 59jährige für die Ressorts Familie, Frauen, Jugend und Senioren vorgesehen.

Die jung wirkende Frau mit dem flotten Kurzhaarschnitt gehörte schon 1994 dem Schattenkabinett von Rudolf Scharping an. Diesmal könnte es wirklich klappen: Ob rot-grüne Regierung oder Große Koalition – die populäre Senatorin für Arbeit und Frauen, die einen Ruf als pragmatische Linke genießt, ist in allen SPD-Planspielen dabei. Kompetente Ostfrauen sind bei den Sozialdemokraten Mangelware, davon profitiert sie.

Doch es bleibt ein Wermutstropfen. Bergmann soll auch diesmal nicht ihr Spezialgebiet, die Arbeitsmarktpolitik, übernehmen. Für das Ressort Arbeit und Soziales hat Gerhard Schröder den Gewerkschafter Walter Riester nominiert. Wenn Bergmann darüber enttäuscht sein sollte, so ist es ihr nicht anzumerken. Dabei hätte sie allen Grund dazu. In ihrem Stab sind in den letzten Jahren zahllose SPD-Papiere zur Arbeitsmarktpolitik erarbeitet worden; sie bearbeitet das Ressort seit sieben Jahren mit Leidenschaft und Erfolg.

Seit langem sind ihr die „dusseligen bundespolitischen Beschränkungen“ bei der Arbeitsmarktpolitik ein Dorn im Auge. Zu gern würde sie hier einiges umkrempeln. Mit Riester, den sie „sehr schätzt“, will sie „ressortübergreifend“ zusammenarbeiten: „Ich kann mich da mit meinen Erfahrungen gut einbringen.“

Mit feministischer Frauenpolitik, wie sie sich aus der westdeutschen Frauenbewegung entwickelte, mußte sich Bergmann erst vertraut machen. Ein gewachsenes Verhältnis hat sie dazu nicht. Doch sie hat klare Positionen entwickelt. Für die Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Frauenhandel müsse „rechtlich noch mehr getan werden“. Um weibliche Karrieren zu befördern, wünscht sie sich ein Gleichstellungsgesetz auf Bundesebene, das sich nicht nur auf den öffentlichen Dienst, sondern auch auf die Wirtschaft erstreckt.

Ein Ziel, das sie in Berlin indes nicht erreicht hat. Zwar sieht hier das Landesgleichstellungsgesetz vor, daß öffentliche Aufträge bevorzugt an Firmen vergeben werden, die Frauen einstellen und aufsteigen lassen. Doch der Koalitionspartner CDU blockiert dessen Umsetzung.

Schon aufgrund ihres eigenen Lebenslaufs ist für Bergmann die Erwerbstätigkeit der Frau ein selbstverständliches Leitbild. Die gebürtige Dresdnerin, promovierte Pharmazeutin, hängte ihren Beruf 1990 an den Nagel, um in die Politik zu gehen. Für Bergmann ist Frauenpolitik in erster Linie Arbeitsmarktpolitik. In Berlin hat sie dafür gesorgt, daß der Anteil von Frauen in ABM-Programmen bei über fünfzig Prozent liegt. Es ärgert sie, daß Mädchen bessere Schulabschlüsse machen und trotzdem größere Probleme als Jungen haben, einen Ausbildungsplatz zu finden. „Da müssen wir Lösungen finden, etwa durch die Förderung von Ausbildungsplätzen für Mädchen.“

Im politischen Geschäft ist sie eine der wenigen erfolgreichen QuereinsteigerInnen. Sie bezeichnet sich als „Kämpfertyp“, doch offen auf Konfrontationskurs geht sie ausgesprochen selten. Damit ist sie stets gut gefahren. Mit Geschick hat sie in der Großen Koalition ein Pilotprojekt durchgesetzt, das die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in eigens gegründete „Soziale Betriebe“ erprobt. Dem Koalitionspartner CDU, dem diese Form der Subventionierung von Arbeitsplätzen gar nicht paßte, kam sie dafür bei einem Lohnkostenzuschußprogramm für kleinere und mittlere Unternehmen entgegen.

Konflikte regelt Bergmann geräuschlos hinter den Kulissen, anstatt sie wie viele PolitikerInnen von Gefechtslärm begleitet in der Öffentlichkeit auszutragen. Als SPD-Spitzenkandidatin Ingrid Stahmer 1995 trotz eines verheerenden Ergebnisses bei der Abgeordnetenhauswahl Anspruch auf das Bürgermeisteramt erhob, wußte Bergmann sich durchzusetzen.

Doch sie weiß auch, wann es klüger ist, zurückzustecken. So zog sie ihre Forderung nach der Abschaffung des Ehegattensplittings widerspruchslos zurück, nachdem das Thema im Wahlkampf Wellen geschlagen hatte. Zahllose aufgescheuchte WählerInnen, die um ihre Besitzstände fürchteten, hatten in der Bonner SPD-Zentrale angerufen.

Bergmann wurde zurückgepfiffen. Dabei hatte sie nur das ausgesprochen, was seit Jahren SPD-Linie ist: Das Ehegattensplitting, das die Hausfrauenehe fördert, muß zugunsten der Familien mit Kindern reformiert werden. „Es hat sich gezeigt, daß sich das nicht als Wahlkampfthema eignet. Die Leute denken: ,Jetzt nehmen die uns das auch noch weg'“, sagt Bergmann. „Deshalb haben wir das aus dem Wahlkampf zurückgezogen, weil es ohnehin in ein größeres Reformkonzept gehört.“

„Bergmann könnte offensiver auftreten“, meint die bündnisgrüne Abgeordnete Sibyll Klotz. „Wenn sie einen Kompromiß eingeht, vertritt sie den Kompromiß, anstatt die Gelegenheit zu nutzen, noch mal ihre eigentliche Position darzustellen.“ Dennoch ist Bergmann für sie „die Senatorin, an der man aus grüner Sicht am wenigsten Kritik äußern kann.“

Christine Bergmann hält sich an die Spielregeln. Doch einmal ist sie aus der Reihe getanzt, vor vier Jahren, beim Staatsbesuch von Chinas Ministerpräsident Li Peng in Berlin. Da ließ sie es sich beim Festessen im Schloß Charlottenburg nicht nehmen, dem Gast von der jüngsten deutschen Vergangenheit zu erzählen und wie wichtig doch Demokratie und Menschenrechte seien. „Jedes System, das seine Kritiker ausgrenzt und einsperrt, ist zum Scheitern verurteilt“, sagte sie in ihrer freundlichen, höflichen Art. Für Li Peng war dies dennoch zuviel. Er brach das Gespräch ab, das Abendessen und auch den Staatsbesuch in Berlin.

Bergmanns Äußerung speiste sich aus eigener Erfahrung. Zu DDR-Zeiten hatte sie sich im Friedenskreis der Kirchengemeinde Kaulsdorf engagiert. Eine akademische Laufbahn hat die Pharmazeutin auch ohne SED-Parteimitgliedschaft eingeschlagen – damals eine Ausnahme. Nach der Wende sympathisierte sie zunächst mit dem Neuen Forum, trat dann aber im Dezember 1989 in die SPD ein. Es folgte eine steile Karriere: Ein halbes Jahr später gehörte sie bereits der Ostberliner Stadtverordnetenversammlung an und wurde am 28. Mai 1990 zur Parlamentspräsidentin gewählt.

Beim Vereinigungsparteitag der Berliner SPD wurde sie im September 1990 zur stellvertretenden Landesvorsitzenden gewählt. Kein halbes Jahr darauf wurde sie Arbeits- und Frauensenatorin der Großen Koalition, außerdem Eberhard Diepgens (CDU) Stellvertreterin. Sie sagt dazu lachend: „Ich bin ein Spätentwickler.“ Auch das Bonner Parkett ist ihr vertraut. Seit 1995 gehört sie dem SPD-Präsidium an. Im Bundesrat vertritt sie häufig das Land Berlin, und bei all dem hat sie sich eine sympathische Natürlichkeit bewahrt.

Dies dürfte ein Grund sein, warum die Frau seit Jahren in der Gunst der Berliner spitze ist. Christine Bergmann kann auf Menschen zugehen, wie es wohl nur wenige Politiker können. In der Markthalle in Kreuzberg plaudert sie mit zwei alten Damen, die an einem Stand einen Kaffee trinken und von ihrem bevorstehenden Umzug erzählen. „Haben Sie denn auch jemand, der Ihnen hilft?“ will Bergmann wissen.

Ihr gelingt es, im Handumdrehen mit Leuten ins Gespräch zu kommen, sei es mit einer türkischen Großfamilie oder einem jungen Elternpaar, dessen Tochter gerade mit Schultüte von der Einschulungsfeier kommt. An einem Stand mit Haushaltswaren fragt sie die Verkäuferin nach ihrem Alter. „82 Jahre“, flüstert ihr die Dame mit den weißen Haaren ins Ohr. Einmal die Woche hilft Elisabeth Montag noch im Familienbetrieb mit. „Frauen sind stark“, sagt Bergmann dazu anerkennend und kauft der alten Dame noch schnell eine Fusselrolle ab. Denn ihre alte ist unbrauchbar, seit der Enkel damit im Garten gespielt hat, erklärt sie lachend.

Seit Mitte August hat Christine Bergmann über fünfzig Wahlkampfeinsätze quer durch die Republik absolviert; am diesem Nachmittag ist sie bei der SPD-Arbeitsgemeinschaft 60 plus zu Gast. Seniorenpolitik ist für sie Neuland, doch auch hier trifft sie den richtigen Ton. „Ich weiß, daß ihr nicht nur etwas zur Rente hören wollt“, sagt sie vor den fünfzig SeniorInnen, die auch die Zukunft der eigenen Enkel im Blick haben. Ihre Forderung, „daß kein Jugendlicher nach der Schule ohne Ausbildungsplatz bleiben darf“, löst zustimmendes Nicken aus.

Den Slogan ihres Vorredners „Wer Senioren quält, wird abgewählt“ münzt sie um: „Wer Jugend quält, wird abgewählt. Wer Frauen quält, wird abgewählt. Wer Familie quält, wird abgewählt. Dann dürfte die Abwahl von Kohl nicht schwer werden.“ Und schon hat sie die Versammlung ganz für sich eingenommen.