Interpret der Volksseele

Montag beginnt im Seebad Blackpool der Parteitag der New Labour Party von Ministerpräsident Tony Blair. Feiern wird sich die Partei als tonangebend auf der Insel – und als gute Sachwalterin zur Förderung der Selbsthilfekräfte der britischen Gesellschaft  ■ Von Dominic Johnson

Als der britische Premierminister Tony Blair am 30. Juli im Garten seines Londoner Amtssitzes den ersten Jahresbericht seiner Regierung präsentierte, fand sich in seiner schriftlich verteilten Eingangsrede ein Kapitel namens „Dritter Weg – Unsere Werte“. Blair erklärte darin: „Es gibt ein klares Thema, das diesen Bericht durchzieht. Das ist der Dritte Weg. Es gibt etwas genuin Neues in der Politik dieser Regierung.“

Dann führte er aus, was er damit meinte – und jedem Sozialdemokraten, der auf Visionäres zur Neugestaltung der Welt wartete, mußte Blairs Liste der Werte des Dritten Weges wie eine kalte Dusche erscheinen. „Welche andere Regierung in diesem Jahrhundert hätte die Unternehmenssteuern gesenkt, um den Unternehmen zu helfen, und trotzdem einen Mindestlohn eingeführt, um den Ärmsten zu helfen?“ fragte der Premierminister.

Weiter formulierte er: „Welche andere Regierung hätte der Bank von England finanzielle Unabhängigkeit gegeben und zugleich eine Arbeitsgruppe zur Obdachlosigkeit eingesetzt? Welche andere Regierung würde so hart arbeiten, um jungen Leuten Arbeitsplätze und neue Fähigkeiten zu bieten, und zugleich die Jugendkriminalität bekämpfen? Welche andere Regierung würde die Arbeitsweise der Regierung reformieren, um die Zentralregierung stärker und strategischer zu machen, und trotzdem die Macht dramatisch an Leute vor Ort in ganz Großbritannien dezentralisieren? Welche andere Regierung würde riesige Extraressourcen in Gesundheit und Bildung stecken und sich trotzdem an harte Gesamtausgabenbegrenzungen halten?“

Dann fuhr er fort mit seiner These: „Das ist der Dritte Weg, ein Glaube an soziale Gerechtigkeit und ökonomische Dynamik, Ambition und Barmherzigkeit, Fairneß und Unternehmertum zusammen.“ Ein interessanter Dreisatz. Man könnte „soziale Gerechtigkeit und ökonomische Dynamik“ auch soziale Marktwirtschaft nennen. „Ambition und Barmherzigkeit“ gleicht indes eher der Marktwirtschaft mit freiwilliger Wohltätigkeit nach US-Muster.

„Fairneß und Unternehmertum“ scheint dagegen dem 19. Jahrhundert entsprungen, als die Weltmacht Großbritannien sich mit „viktorianischen Werten“ als moralische Unterfütterung und Handlungen von erfolgreichen Einzelpersonen ausstattete. Das Wichtigste an der vorangegangenen Definition ist aber ein verborgenes Detail. Der Dritte Weg ist nicht eine bestimmte Politik oder ein gesellschaftspolitischer Entwurf, sondern einfach „ein Glaube“.

Hier offenbart sich die Grundüberzeugung am Kern der Philosophie des Dritten Weges: Die Ziele der Linken – eine gerechtere Gesellschaft – sind nur erreichbar mit den Mitteln der Rechten – der Freiheit des einzelnen. In seiner Rede zum Thema vor der französischen Nationalversammlung, mit ihrer sozialistischen Mehrheit so etwas wie ein rotes Tuch für Tony Blair, sagte der britische Regierungschef am 24. März: „Unsere Bürger haben das Vertrauen zu nahezu jeglicher staatlichen Institution verloren... Die Regierung sollte nicht versuchen, alles selbst zu tun.“

Erst jetzt, wo New Labour im Amt den Reiz seiner Anfänge verloren hat und die Mühen der Ebene den politischen Alltag bestimmen, wird eine Konsequenz dieser Überzeugung deutlich, die man gar nicht vermutet hätte: Die New-Labour-Regierung tut nicht sehr viel, jedenfalls nicht Dinge, die man von sozialdemokratischen Regierungen gemeinhin erwartet.

Sie führt keine lautstarken Strategiedebatten über die Wirtschaftspolitik oder die Ankunft eines neuen technologischen Zeitalters. Sie überlegt nicht, wie man Milliarden für Großprojekte hin- und herschieben kann. Sie verkündet bahnbrechende Umwälzungen allein im Bereich der politischen Verfassung des Landes – die neuen Autonomiebestimmungen für Schottland und Wales und die Einführung einer Gesamtlondoner Stadtverwaltung.

Die ganze Rhetorik der Wahlkampfphase von 1996-97 – „tausend Tage, um das Land fitzumachen für tausend Jahre“ (Labourspruch) – sowie die durchaus vorhandene Aufgeblasenheit und Hybris bei manchen Regierungsverantwortlichen hat höchst effektiv den eigentlich kleinmütigen Herzschlag von New Labour übertönt. „Es kann nur besser werden“, lautete 1997 New Labours Wahlkampflied in bestem britischen Understatement. New Labours fünf Wahlkampfversprechen – zum Beispiel, daß Schulklassen nicht mehr als dreißig Kinder groß sein sollten – waren von atemberaubender Schlichtheit.

Nun kann selbst das die Menschen überfordern, wie die Geschichte jenes Schulmädchens überliefert, das als Schülerin in einer Klasse mit 31 Kindern nach Blairs Wahlsieg schlaflose Nächte mit der Frage verbrachte, wen der neue Premierminister wohl hinauswerfen würde. Aber im Grunde ist New Labour höchst genügsam. Es reicht der Regierung Blair im Grunde, daß sie an der Macht ist. Die aufregenden Erneuerungen des Landes – das sollen die Leute gefälligst selber machen. Wenn sie Labour schon ihre Stimme geben, weil sie mit der bisherigen Regierung unzufrieden sind, sollen sie hinterher gefälligst etwas dazu tun, daß die Dinge anders werden. Die Regierung ist dabei gerne behilflich.

Anders läßt sich das ständige Beharren von New Labour nicht erklären, daß man „dem Volk zuhören“ wolle. New Labour schaut seinen Wählern dermaßen genau aufs Maul, wie es nur eine Partei kann, die die Abkehr von der Ideologie und die pragmatische Hinwendung zum Bürger als Erfolgsprinzip erkannt hat. Die Regierung ist eine Dienstleistungsmaschine. Anspruchslos ist sie jedoch nicht. New Labour hört nicht nur zu, sondern redet auch, und zwar sehr viel.

Mit seinem untrüglichen Instinkt dafür, das britische Gegenstück zum „gesunden Volksempfinden“ zu treffen – sei es bei der Erfindung der „Volksprinzessin“ nach dem Tod von Prinzessin Diana, sei es bei der rhetorischen Ablehnung des Euro bei gleichzeitiger Entkrampfung des Verhältnisses zur EU, sei es in dem ständigen Beschwören einmaliger Friedenschancen in Nordirland –, hat der britische Premier sich zu einer Art Chefinterpret der öffentlichen Meinung gemacht. Und das um so effektiver, als New Labour die Beherrschung der Medien und der eigenen medialen Darstellung sehr ernst nimmt.

Mit dieser Feststellung sollen keineswegs die durchaus strengen Moralvorstellungen von New Labour minimiert werden, die sich in der Wohlfahrts- und Arbeitsmarktpolitik unter Tony Blair ziemlich direkt niedergeschlagen haben. Doch der rigideste Moralapostel der Regierung, Sozialstaatssekretär und Chefwohlfahrtsreformer Frank Field, hat im letzten Juli enttäuscht hingeschmissen, so daß die einst als Kern der New-Labour-Philosophie angekündigte große Wohlfahrtsreform vorläufig begraben worden ist. Statt dessen sind die strikten Ausgabenbegrenzungen für Gesundheits- und Bildungswesen, wie Blair lobt, aufgehoben worden. „Das Volk“, als deren politischer Arm New Labour in einem der großmäuligeren Momente des Premierministers agieren soll, will nun einmal nicht ganz so viele Experimente.

New Labours Wurzeln sind nun einmal nicht die jener Richtung der europäischen Sozialdemokratie, die den Staat als mächtige Maschine zur Gestaltung von Lebensverhältnissen begreift. Das ist Old Labour – unter früheren Labour-Regierungen galt es als höchste Ambition, „die Kommandoebene der Wirtschaft“ zu erobern. New Labours Wurzeln sind in der Tradition der Selbstorganisation der Arbeiterbewegung zu finden, die in den Wirren der industriellen Revolution Großbritanniens im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert als unüberschaubare Vielfalt von Gewerkschaften, Freikirchen, Zünften, Selbsthilfeorganisationen und Debattenzirkeln blühte.

Das Hauptaugenmerk dieser Gruppen bestand in genau dem Ziel, das Blair immer wieder als seines verkündet: Den Leuten Sicherheit in einer Zeit rapider Veränderungen zu geben und ihnen zu helfen, mit einer sich rasch wandelnden Gesellschaft fertig zu werden. Es ging um die Stärkung der Fähigkeit der Menschen, sich gesellschaftlich zu behaupten, um das Schaffen von Selbstbewußtsein und innerer Stabilität.

Die angewandten Mittel reichten von Hilfe zur Kriegsdienstverweigerung bis zur Verbreitung des Evangeliums. Mit der großen Politik befaßten sie sich nicht – das war Sache der Oberklasse. Erst Mitte des vorigen Jahrhunderts, als Großbritannien unangefochten Wirtschaftsmacht Nummer eins war und die herrschende Elite sich an die Modernisierung des Staatswesens ging, meldeten sich diese Gruppen zu Wort – mit Forderungen nach einer Verfassungsreform, die auf die Eindämmung der Staatsmacht hinausliefen. Und erst als auch normale Leute das Wahlrecht bekamen, kristallisierten sich aus dieser politischen Subkultur politische Parteien heraus, aus denen dann später die Labour- Partei entstand – und zwar in expliziter Abgrenzung zu sozialistischen Gruppen.

Labours Zeit als sozialdemokratische Regierungspartei, eben auf „Kommandoebene“, ist als Episode zu werten, die genau die Zeit währte, in der in der Linken der Glaube an staatliche Regulierungsfähigkeit vorherrschte. New Labour entstand ja erst dann, als Labour schon lange nicht mehr an der Macht gewesen war und nicht hoffen konnte, es in der alten Form jemals wieder zu sein. Die Rückbesinnung Labours auf autonome gesellschaftliche Akteure als Motoren des Fortschritts war in den achtziger Jahren, den Hochzeiten des Thatcherismus, längst vollzogen.

New Labour war die Fusion dieser Rückbesinnung mit einem neuen Willen zur Macht, der sich nicht damit begnügte, einfach im Abseits zu werkeln, sondern auch an die Regierung wollte, um die eigenen Vorstellungen besser durchsetzen zu können – sozusagen „Ambition und Barmherzigkeit“ als politische Strategie.

Es ist offensichtlich, daß dieses politische Programm mit anderen sozialdemokratischen Traditionen unvereinbar ist. Die deutsche SPD hat mit New Labour nichts zu tun, auch wenn Gerhard Schröder das anders sieht.

Ein deutscher Blair hätte im Wahlkampf niemals nostalgische Erinnerungen an goldene siebziger Jahre anklingen lassen, wie es Schröder mit den Helmut- Schmidt-Bildern und dem Spruch vom „Modell Deutschland“ tut. Er hätte versucht, Umrisse eines eigenen Modells zu erarbeiten. Ein deutscher Blair hätte das Problem, mit wem die SPD nach der Wahl zu welchen Bedingungen regieren soll, nicht verschämt umgangen, sondern hätte offensiv gesagt: Wer mich will, muß mich wählen; ich hole mir meine absolute Mehrheit alleine, und die Grünen können auf dem Müllhaufen sozialistischer Träumereien bleiben.

Ein deutscher Blair hätte niemals jemanden wie Jost Stollmann auch nur in die Nähe eines Mikrophons gelassen, sondern höchstens eine Parteispende kassiert und ihn dann ins Oberhaus gesetzt. Ein deutscher Blair würde nicht versuchen, mit Phrasen Sturm und Drang zu suggerieren, sondern mit konkreten Versprechen den Mut zum Detail erkennen lassen. Ein deutscher Blair würde vermutlich, soviel muß eingeräumt werden, allerdings auch keine Wahlen gewinnen.