Damit du du selbst bleibst: Wann es peinlich wird, Rebell oder Freak zu sein

Wer vor zwanzig Jahren als junger Mensch etwas auf sich hielt, setzte alles daran, sich als Außenseiter, ja als Rebell, Freak oder Widerständler zu profilieren. Ein Verweigerer dieser Rollenmodelle geriet schnell in Verdacht, Spießer zu sein, Kleinbürger und Duckmäuser. Also ein Mensch, der die schlechten bestehenden Verhältnisse beschönigt und kleingeistig verteidigt: Ein modernes Schmuddelkind, mit dem niemand spielen wollte. Heutzutage wirkt das Vokabular, wirken die Ikonen des Rebellischen nur nch aufreizend und komisch. Auch deshalb, weil sich mittlerweile selbst Unternehmer oder Funktionäre der F.D.P. gerne als Barrikadenkämpfer gegen die versteinerten Verhältnisse feiern lassen – ganz ohne Ironie. Portraits, Glossen und ein Essay über den stillen Tod der klassischen Heldenfigur der siebziger Jahre  ■ Von Michael Rutschky

Daß einer ein „echter Freak“ sei oder gar „unbezähmbarer Outlaw“, das hört man momentan selten als Ausdruck höchsten Lobes. Während diese Komplimente im Stillen abstarben, wurde ja während der letzten Jahre über den „Querdenker“ ein richtiger kleiner Schauprozeß abgehalten, der ihn als besonders eitlen Spezialisten für die Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit entlarvte.

An wen ist zu denken, wenn einer als „echter Freak“ gepriesen wurde? An den abgebrochenen Kunststudenten beispielsweise, der einst als Entwicklungshelfer nach Afrika ging, für zwei Jahre mit den Beduinen lebte, nach seiner Rückkehr ein Musical für Taubstumme produzierte, dessen Tournee durch Europa Triumphe feierte. Seit der Wende bewirtschaftet er eine LPG bei Bad Freienwalde. Was dort zwischen Menschen, Tieren und High Tech vorgeht, bleibt der Außenwelt unbekannt, denn sie lassen's keinen Besucher wissen.

Selbstverständlich war unser Freak auch mal bei den Grünen engagiert, doch nur während der ersten Jahre, als der „echte Freak“ noch eines der Leitbilder der Partei bot. Doch seit die Realos die Macht übernahmen, rechnet sich unser Freak zu den echten Gegnern der Grünen. Wutschnaubend kann er lange Tiraden halten, daß sie im Grunde weit mehr Verachtung verdienen als die CSU.

Was den „unbezähmbaren Outlaw“ anbetrifft, so verschwand er weit schneller von der Bühne. Vermutlich handelte es sich um einen Regisseur des Jungen Deutschen Films. Und es wurde bald klar, welches gute Leben er dank der staatlichen Filmförderung sich zwischen Dithmarschen, New York und der Toskana machen kann – ohne daß seinen filmischen Erzeugnissen je irgendein ökonomischer Erfolg beschieden war.

Auch an Johann Kresnik ist beim „Outlaw“ zu denken, der seine unbezwingbare moralische Eitelkeit in gesamtgesellschaftskritischen Balletten auszugeben pflegt, wie überhaupt manche Theaterleute das Karriereschema – das den K-Gruppen Anfang der Siebziger durchzusetzen mißlang: Berufsrevolutionär im öffentlichen Dienst – erfolgreich angewendet haben.

Die „geborene Rebellin“ Luise Rinser muß schon länger auf Komplimente für ihr kritisches Außenseitertum verzichten, das sie als treue Katholikin ausharren, gleichzeitig Kim Il-Sung als großen Führer Nordkoreas verhimmeln ließ. Es war des Schriftstellers Eckhard Henscheids geduldige Arbeit, die Luise Rinsers kritisches Außenseitertum zum Einsturz brachte.

Die naive Gesellschaftskritik wüßte das Verschwinden des echten Freak, unbezähmbaren Outlaw, geborenen Rebellen aus dem Scheinwerferlicht genau zu erklären: Der Druck der Gesellschaft erzwingt die Anpassung an das herrschende Bewußtsein – was besonders deutlich die programmatischen Aufweichungen der Grünen bei ihrem Avancement zur Regierungspartei bezeugen.

Anpassung versus Widerstand: In diesen Kategorien lernte auch ich mich als junger Mensch auslegen. Anpassung ist es, was die Gesellschaft von dir fordert, und Widerstand ist es, was du dieser Forderung der Gesellschaft entgegenzusetzen hast. Warum? Damit du du selbst bleibst. Anpassung bedeutet nämlich Selbstentfremdung; dem Berufswunsch nachgebend, den deine Eltern so inständig für dich hegen, gehst du dir selbst verloren. Freilich, dem gesellschaftlichen Anpassungsdruck widerstehend, muß du ein Leben außerhalb des Mainstream zu führen lernen, ein Leben als Außenseiter.

In den fünfziger Jahren, als ich es lernte, ging dieses Schema übrigens noch nicht auf den Massenerfolg der Frankfurter Schule um den Philosophen Adorno zurück, sondern einerseits auf den französischen Existentialismus um Jean-Paul Sartre – das authentische Individuum erkennt seine Verurteilung zur Freiheit an, statt in gesellschaftliche Konventionen auszuweichen –, andererseits gelangten die Ideen eines inzwischen halbvergessenen spanischen Feuilletonisten namens José Ortega y Gasset zum Massenerfolg.

Schon in den Dreißigern hatte Ortega den „Aufstand der Massen“ diagnostiziert. (Welche Mühe der Feuilletonist neuerdings hat, in den Madrider Straßencafés einen freien Platz zu finden!), als Aufstand der Massen wurde die kommunistische ebenso wie die Nazidiktatur gedeutet: Wogegen du als einsamer Außenseiter also Widerstand zu leisten hattest, das war die, so hieß das Wort, „Vermassung“.

An diesen Wahrheiten über Anpassung und Widerstand, Authentizität und Entfremdung, Außenseitertum und Mainstream imponiert ein „Zeitkern“ (Adorno). Neben dem historischen – fünfziger Jahre, Existentialismus, Drittes Reich – ein biographischer: Widerstand, Außenseitertum, Authentizität, diese Forderungen ergehen an einen jungen Menschen. Sie bestimmen die ersten Kapitel seines Bildungsromans, also die ersten Etappen von dem, was unser Held als Lebensentwurf zu realisieren trachtet.

Wer artig Medizin studiert, um Vatis Praxis zu übernehmen, hat keinen solchen Bildungsroman. Er wird sein Leben lang mehr und minder deutlich an diesem Mangel leiden und ihn auf mehr oder minder gescheite Weise zu kompensieren suchen: Weltreisen oder drei Ehen oder religiöse Bekehrungen oder ein Zweitstudium.

Dem Widerstand, dem Außenseitertum hat der junge Mensch anzuhängen im Zuge seiner Sozialisation und Enkulturation, um zwei gänzlich vergessene Modeworte aus den siebziger Jahren anzuwenden. Dies ist eine alte Geschichte. „Ungebildete Menschen gefallen sich im Räsonieren und Tadeln“, heißt es 1820 in Hegels Rechtsphilosophie, „denn Tadel finden ist leicht, schwer aber, das Gute und die innere Notwendigkeit desselben zu kennen. Beginnende Bildung fängt immer mit dem Tadel an, vollendete aber sieht in jedem das Positive.“

Wenn der junge linksradikale Politiker mit Anfang fünfzig Bundeskanzler zu werden verschmäht, ist sein Bildungsroman schiefgelaufen. Der Freak in seiner LPG bei Bad Freienwalde weiß jede Gelegenheit für seine „alternativen“ – noch so'n abgestorbenes Modewort – Geschäfte zu nutzen. Andernfalls ist er bald kein echter Freak mehr, sondern bloß Bankkrotteur.

Aus jugendlicher Perspektive, die dem Widerstand verpflichtet ist, erscheint das natürlich als Anpassung: „Wo ist die Kapitalismuskritik von Gerhard Schröder geblieben?“ Aber die jugendliche Perspektive läßt sich unmöglich für alle Lebensalter durchhalten. Der Mittfünfziger, der an schonungsloser Kritik des Kapitalismus unbeirrbar festhält, ist immerhin Universitätsprofessor. Er kann jeden praktischen Kontakt mit der Wirtschaftspolitik vermeiden. Im übrigen läßt er seine Sommerseidenanzüge von Hand in Bangkok schneidern, das, so weiß er, ist spottbillig.

Es ist nun aber einer speziellen Komplikation zu gedenken. Wer nach 1968 in der Bundesrepublik jung war und auf Widerstand statt Anpassung zu setzen hatte, sah sich der Schwierigkeit gegenüber, daß es einen außerordentlich hohen Standard gab, was als Widerstand gelten durfte.

'68 hatte sozusagen die Tarife verdorben. Der Tadel, das Räsonnieren, die Kritik: Der junge Mensch konnte auf die Formen und Inhalte des Widerstands nicht spontan, von sich aus kommen, er war von Eltern und Lehrperson umstanden, die genau wußten, in welchen Formen und Inhalten der jugendliche Protest sich darstellt. Ja, viele Eltern und Lehrpersonen waren keineswegs bereit, nach Hegels Schema ihren Bildungsroman fortzusetzen und allüberall das Gute und Vernünftige in der Einrichtung der Bundesrepublik fortschreitend zu erkennen. Im Gegenteil, sie wollten echte Freaks, unbezähmbare Outlaws, geborene Rebellinnen bleiben, sie hielten am Außenseitertum, am Widerstand, an Jugendlichkeit fest – und engagierten sich politisch beispielsweise bei den Grünen.

Daß der nachwachsende junge Mensch die Standards von '68 bei weitem verfehlt, gehört seitdem zum rhetorischen Repertoire, auf das ganz unterschiedliche Lebensalter Zugriff haben. „Wir haben als Studenten damals doch noch...“, lautet eine der einschlägigen Formeln, „während heute...“

Weil der Nachwuchs derart keine Chance haben würde, mußte er sich etwas einfallen lassen, um sein Außenseitertum zu kommunizieren (das ja sozusagen ein objektives ist: das Elternhaus, die Schule, die Universität und andere Ausbildungsstätten, sie sind Vorformen des Lebens, das erst noch beginnen soll). Punk ließ sich der junge Mensch einfallen, eine Kombination von Selbstbeschädigung und hochironischen Zitaten aus dem Repertoire der Gesellschaftskritik: „Schaut her, welchen Jugendabschaum euer Spätkapitalismus hervorbringt!“ Die Punks inszenierten sich, ist gesagt worden, als die schlimmsten Befürchtungen von Sozialarbeitern.

Die achtziger Jahre dann ließen den jungen Menschen Formen von Widerstand entwickeln, die das Schema vollständig verdrehten. Seitdem können wir im „echten Freak“ oder „geborenen Rebellen“ zwar historische Gestalten des Jugendprotests erkennen, Versteinerungen gewissermaßen, an denen mancher alternd festhält (was manchmal peinlich, manchmal aber auch liebenswürdig und lebensfreundlich wirkt: auch hier keinerlei Gewißheit). Was sich der aktuell jugendliche Außenseiter fürs Tadeln und Räsonnieren vornimmt, ist aber unmöglich zu prognostizieren, ja, schon schwierig zu erkennen.

Anpassung nämlich machten einflußreiche Kader zur zentralen Form des jugendlichen Widerstands seit den achtziger Jahren. Der Soziologiestudent ging im Anzug zur Vorlesung, die ein angegrauter Achtundsechziger in Jeans und Pullover über Adorno hielt. Zwar hätte der Professor diesen Studenten allzugern als neokonservativ identifiziert, widerstandslos der Anpassung ans Bestehende verschrieben. Aber die Studenten zeigten sich durchaus angetan vom Denken der Differenz.

Diese Konfusion über Anpassung und Widerstand hält an. Die Love Parade hat sie auch dieses Jahr wieder prächtig gefördert. Handelt es sich um eine avancierte Form von Jugendprotest, also Widerstand? Oder einfach um Fun, um die Feier des Lebens – des Bestehenden, wie die Achtundsechziger tadeln? Man weiß es nicht. Wir sollten also auf das Schema bis auf weiteres verzichten.

Michael Rutschkys jüngstes Buch heißt Lebensromane und ist im Steidl-Verlag erschienen (Göttingen 1998, 304 Seiten, 38 Mark).