Gefestigte Stimmen

■ Berliner Obdachlosengruppe spielte im Jungen Theater Brecht

Wie die schönste Kissenschlacht: Am Ende fetzten die dreizehn Schauspieler und Obdachlosen der Theatertruppe „Ratten 07“ in schönstem Einklang mit dem Publikum Styropor-Brotlaiber, die Ziegelsteinen verdächtig ähneln, quer durch das Junge Theater. Ja, genau, man muß sich dagegen wehren, daß es in schlimmen Zeiten die ganz unten am schlimmsten trifft. Meint zumindest Brecht im seinem unbekannten „Brotladen“. Andererseits warnt er ebendort vor einer Revitalisierung des Odysseusmythos: So wie Odysseus sich die Ohren verstopfte, um der Liebesverführung zu entgehen, so ertaubt die Weimarer Republik gegenüber dem Elend. Obwohl der „Brotladen“ Fragment geblieben ist, fehlen nicht Brechtsche Verfremdungen. Drei verschiedene Varianten vom Schicksal der Witwe Queck werden durchgespielt: Sie wird gerettet nicht, nicht, doch.

Und die gegenwärtige Variante? Nach dem Stück zählt Ensemblemitglied Rolf zehn Minuten an dem Groschengekrümel herum, das rund 70 Zuschauer für 70 Minuten theatralisch verfremdeter, mutiger Selbstdarstellung zu spenden gewillt waren. Das Ergebnis: 143 Mark, rund zwei Mark pro Zuschauer – eine Kleingeldtaschen-Reinigungsaktion. Und das bei freiem Eintritt.

„Der Brotladen“, erzählt Ulli alias Witwe Queck, wurde 30 Jahre nicht inszeniert, „denn wie sollten wohlgenährte Schauspieler ernstzunehmend nach Essen gieren“. Das Authentizitätsargument überzeugt heute zwar niemanden mehr, diese Schauspieler aber umso mehr. Überall mischen sich Defizite mit Qualitäten, die ihnen kein Staatsschauspieler dieser Welt nachmacht. Zwar nuscheln die Outcasts manchmal; – draußen im wirklichen Leben zu oft ins Leere hinein gesprochen. Aber im Chor fabrizieren sie einen tollen satten Sound. Stimmbildung zwecks Festigung der Stimmbänder? „Ne, die sind nicht gefestigt, sondern gefestet und gefeiert, ganz einfach vom Feiern“, meint Rolf zynismusschwanger mit beneidenswerter Schlagfertigkeit. Im wild durchgemischten Ensemble („ne, bei uns gibt es keine Generationenprobleme“) ist eine hypermotorische Zappeligkeit zu sehen, wie sie nur der Alkohol in die Nerven ätzt, aber auch ein babyseliges Grinsen, das wohl nur jenseits diszipliniertem Bürgeralltag überleben kann, oder seltsam jugendliche Augen unter faltiger Haut. Und in Flos warmer, zupackender Art ahnt man eine Clan-Mutter, die es versteht, ihre Leute über Streitereien und Katastrophen hinweg zusammenzuhalten. Wo außerhalb der Straße gibt es noch Clanmütter?

Die Inszenierung ist kein Kollektivwerk, sondern eines von Gunter Seidler. Ulli: „Er ist ein Profi“. – „Ihr habt aber sicher auch Einfälle in die Inszenierung mit eingebracht.“ – Ulli: „Klar haben wir Einfälle...“ – Rolf: „Was, Du willst Einfälle haben?“ – Ulli: „... aber nicht in die Inszenierung eingebracht. Die stammen vom Gunter.“ Und der läßt seinen Schauspielern ihre Klamotten und streift ihnen lediglich unisono gelbe Ringershirts über zur Veranschaulichung ein- und derselben leuchtenden Hoffnungslosigkeit. Erst wer einen Beruf ergreift, erhält was Skianzugartiges, abgefedert mit Daunen. Der schuftige Bäcker trägt die sinnige Aufschrift „BÄ“, der Polizist ein(en) „PO“ am Hirn.

Zwischen den Szenen treten die Schauspieler aus ihren Rollen heraus. Die Brechung der Illusion mit der Realität geht aber nicht über ein „Die Szene war gut“ oder „Wer spielt den Zeitungshändler?“ hinaus. Brecht ist und bleibt eben ein lausiger Dramatiker. Umwerfend hingegen waren nur die Schauspieler, übrigens auch hinter der Bühne. Unter eisgrauem Strubelhaar sitzt zum Beispiel ein Kopf, dem die linken Uni- Debatten aus anderen Zeiten noch immer eingestanzt sind: Nein, nein, Kleinbürgertum und Spießigkeit müsse man ganz genau unterscheiden. Abel reflektiert über die Vertreibungspolitik der Ära Schönbohm.

Sechs Jahre bespielen nun die Ratten die Berliner Volksbühne. Nur einer von der Stammbesetzung ist noch dabei. Demnächst geht es zu den Ruhrfestspielen. Ulli: „Ist doch was.“ – Rolf, der Unerbittliche: „Willst Dich von einer Zeitungstante loben lassen.“ Tanten loben auch ohne Ruhr. bk