Motorradrennen im Fruchtgarten

■ Der 31jährige Bremer Manfred Kirschner erzählt(e) in der Städtischen Galerie Delmenhorst ein fiktives Leben, nicht in Romanform, nicht als Film, sondern in einer Diashow mit Popcorn / Neue eßbare Bilder zeigt er auch

Der Mann mit Fallschirm, der gerade zur Landung in einem Schwimmbecken ansetzt, hält bis zum 31.04.2007. Das Pferd mit dem nixigen Fischschwanz dagegen verstirbt wohl schon am 12.05.2004. Spätestens zu diesen Terminen sollte man Mann und Pferd aufessen. Denn Mann und Pferd leben auf Weizenmehl, Kartoffelstärke und Zucker. Der Nicht-mehr-Stipendiat der Stadt Delmenhorst Manfred Kirschner zeichnet auf sogenanntes Eßpapier. Rosa schmeckt nach Kirsche, gelb nach Orange, manchmal auch nach Banane, vor allem dann, wenn Kirschner, der jetzt in der Städtischen Galerie Delmenhorst/Haus Coburg ausstellt, social-beat-Artiges draufkritzelt („Fliehe fest über Huckelberry Finnzaun“) und das Werk unter das Logo „No social beat“ stellt.

Doch nach zehn Jahren ergraut dieses Papier. Die Zeichnungen von Motorrädern, Fabeltieren oder Schwebemenschen mit verkabelten Außenorganen aus Lebensmittelfarbe E 172 (Gelb), E 104 (Grün) haben nur Bestand für die kunsthistorische Ewigkeit dank Vitamin C. „Jetzt mit Vitamin C“ rühmt ein Aufkleber auf der Vakuumverpackung der Bilder mit Haltbarkeitsdatum 2007. Aber schon auf den 2004-Bildern stand „Mit Vitamin C“ drauf: ganz die üblen Gepflogenheiten der „wirklichen“ Lebensmittelbranche mit ihren penetranten „Jetzt neu“-Bekundungen.

Kirschner, der seine freundlichen Zeichnungen so dicht hängt wie Studenten ihre Wohnungsgesuche am Schwarzen Uni-Brett oder sie im Kühlschrank stapelt wie Aldi seine Folienwurst im Regal, verlangt für ein Bild gerade mal 100 bis 150 Mark. Und er reflektiert ausnahmsweise einmal lustig und unvergrämt über Gebrauchs- und Warenwert der Kunst. Natürlich spielt bei einer so pfiffigen Präsentationsidee auch der Neuerungsdruck des Kunstmarkts eine Rolle. Das „ätzende wie spannende“ Originalitätsgebot preßt Künstlern immer wieder neue Formen ab. Aber Kirschners Konzept des „mythischen Kannibalismus“ ist mehr als ein Joke. Es fordert den Betracher auf, Kunst nicht nur an Wände zu hängen, sondern der Seele „einzuverleiben“. „Mir gefällt die Vorstellung, daß sich irgendwer irgendwann erinnert mit der Bemerkung: ach, im Jahr 1996, da habe ich ein Bild von Manfred Kirschner gegessen“, meint der edle Nahrungsspender. Er selbst kaut manchmal seine liebsten Blätter, um sich mit ihnen molekularbiologisch ganz und gar zu vereinigen. Wer zehn Jahre mit einem Bild gelebt hat, ist auf seine körperliche Gegenwart nicht mehr angewiesen.

Einst, bei einer Hamburger Vernissage, gab es für 30 Auserwählte als Vorspeise ein kleines Blatt Eßpapier mit Lyrik, als Hauptgericht ein Bild und danach wieder Lyrik. Und alles für Hundert Mark. Endlich mal wurde Kunstkonsum öffentlich sichtbar gemacht.

Auch seine „Family-Dia-Show“ strotzt vor cineastischen Anspielungen. Kein Wunder. Schließlich ist Kirschner Regisseur eines Kurzfilms, der Buchstaben über mehrere Folgen quer über die Leinwand wirbeln läßt. Ein anderes Stück Experimentalfilmkunst dokumentiert die Ausscheidungen der Fliegen in einem Kuhstall – und zwar ganz materialistisch auf orangenem Zelluloid. „Sieht irgendwie aus wie ein Sternenhimmel in der falschen Farbe.“ Man sieht schon: Kirschner kennt weder Gattungs- noch Stilgrenzen. Am liebsten aber scheint er es zu mögen, irgendwelchen trivialen Vorgängen einen poetischen, euphorischen, hymnischen Mehrwert abzutrotzen. „Kunst soll sinnlich sein – und subjektivistisch.“ Von all jenen Bestrebungen der Kunst, die von der Person des Künstlers abstrahieren, möglichst alltagsentfernten Themen hinterhersinnieren und die eigene Handschrift tilgen wollen, hält Kirschner herzlich wenig. Auf einer eßbaren Zeichnung ist einer jener Bauwagen zu sehen, in denen Kirschner nun schon seit zehn Jahren lebt. Eine existentielle Entscheidung für Natur, Raumnot und Unabhängigkeit. Und so ist auf der Folie des Bildes zu lesen: „Enthält Existenzialismus“. Kunst darf/soll/muß durchaus die eigenen Träume, Ideale, Erfahrungen vor allem aber die eigene kulturelle Prägung (Pop, Film, Drogen ...) umstreunen.

Wobei wir beim Amerikaner Bob Mancovitz angelangt wären, Kirschners Kunstfigur und trashigem Alter ego. Dieser Mensch, der schon seit vielen Jahren seine Existenz in Kirschners Hirnstübchen fristet, soll – wie Kirschner am Donnerstag in einem Videovortrag mit Zeigestab und sanft dozierender Stimme erklärte – im Juli 1941 auf irgendeine Welt gekommen sein. Sein Leben ist wie Lindenstraße. Verkehrsunfall, Mord, Psychotherapiesitzungen, Andenexkursion, VIP-Partys ballen sich in absurder Dichte. Längst zerredete Zeitthemen wie Gentechnik, Identitätsfrage oder die Wechselhaftigkeit des modernen Berufslebens werden halbernst touchiert. Auf den mit Schlingpflanzen übermalten oder Schneiderschnitten hinterlegten Collagen sind die Nachtbars, Landgutgärten, Alpenkulissen, Kinopremieren usw., von denen Kirschner mit viel nostalgischer Liebe zu 70er Jahre-Pop- und Politkultur (Marihuanapartys, Vietnamdemo) berichtet, zwar nicht wirklich zu sehen, mit ein bißchen Fantasie aber doch. Witz der Sache ist also, daß durch ein paar Worte guten Zuredens einige Farbstreifen und Kataloggesichter zu einer hollywood-reifen Szene mutieren. Illusion kann so einfach funktionieren – ohne Millionenetat.

Aus allen Räumen lauert im Haus Coburg die Persiflage hervor. Aber hinter diesem steten Schmunzeln steckt eine tiefe Liebe zu gewissen Formen der Unterhaltungskultur, zu Zivilisationsschnickschnack – und zum uramerikanischen Mythos von der erfolgreichen Goldsuche. Demnächst möchte der sanfte Mensch selbst mal Amiland erkunden. Vielleicht hat ja Bob was übersehen.

Barbara Kern

Ausstellung bis 18.10. Zweiter Teil der antiautobiografischen Dia-Show: 8.10., 18 Uhr