Zimmer 1001 für eine Nacht

Die heilige Stadt Mashhad im abgelegenen Nordosten des Iran ist schiitischer Wallfahrtsort. Wie im katholischen Lourdes mischen sich auch hier Geschäftstüchtigkeit und Religiosität. Für den westlichen Beobachter bleibt vieles unverständlich und kurios  ■ Von Bernd Müllender

Wahrscheinlich lag es daran, daß sich so selten Ungläubige in diese Gegend verirren. Oder war es die gewollte Blindheit des Sehenden? Jedenfalls knöpft uns der Hotelmanager nicht den vielfachen Übernachtungspreis in US- Dollar ab, wie es das Gesetz eigentlich vorschreibt, sondern checkt uns als fromme Pilger ein. Und dann schien er auch noch einen besonderen Sinn für Humor zu haben. Oder war es einfach Zufall? Hoch oben im 10. Stock bekommen wir den Raum mit der klassischsten aller orientalischen Klischeeziffernfolgen zugewiesen: Zimmer 1001 für eine Nacht.

Mashhad. Heilige Pilgerstadt der Schiiten im Nordosten des Landes, im Dreiländereck Turkmenistan/Afghanistan/Iran. Wer es im Leben nicht zur Pilgerfahrt nach Mekka bringt, sollte zumindest einmal hier gewesen sein: im Haram, dem Mausoleum mit dem Schrein des großen Imam Reza. Der gigantische Goldkuppelbau im Stadtzentrum überragt und überstrahlt alles. „Groß wie das Müngersdorfer Stadion“, hatte uns ein Exilperser aus Köln gesagt.

Wir begleiten die Familie Fattahi auf ihrer Pilgertour. Siamak, der Sohn, seit zehn Jahren als Taxifahrer in Wuppertal lebend, hatte seine Familie aus dem eine Flugstunde entfernten Teheran eingeladen („ein Besuchsgeschenk von mir“). Solch ein 36-Stunden-Trip zu fünft kostet an die tausend Mark (somit ein paar persische Monatsgehälter), ist aber preiswert im Vergleich zum heiligen Original nebenan im Saudischen: „Mekka“, vergleicht Siamak kennerisch, „ist wie Wuppertal Taxi. Da muß man eine teure Lizenz kaufen und vielleicht viele Jahre warten.“

Morgens vor dem Eingang zum Heiligtum. Sicherheitsschleusen, Wachleute, grimmige Blicke. Kameras sind streng verboten, wir werden gefilzt wie am Flughafen. Und betreten dann ein Monumentalgelände des Gigantismus aus herrlichen Brunnenhöfen, mit Marmorprunk, Intarsienarbeiten und dreidimensionalen Mosaiken soweit das Auge blicken kann und all diese Pracht zu verarbeiten weiß. Atemberaubend. Die Minarette fast so hoch wie Dorfkirchtürme. Die Portale aus purem Gold. Ein unablässiger Strom von Menschen schiebt sich ins Innere, Richtung Grabkammer, durch geheimnisvolle Gewölbe und riesige Säle mit Spiegelkabinetten bis unter die hohen Decken, ein einziges glitzerndes, reflektierendes Labyrinth. Hatte es nicht geheißen, für Ungläubige sei das hier Tabuzone, bei Strafe verboten? Vor lauter Staunen fließen wir mit. Schuhe abgeben wie in Trance. Einbahnstraße, immer weiter. Und nur noch Männer um uns. Gebetet wird streng geschlechtsgetrennt.

Manche hocken in irgendeiner Nische, den Koran vor Augen, Suren flüsternd, säuselnd. Viele beten im Gehen vor sich hin, besser: im Gegangenwerden, andere schreien plötzlich kurz auf. Und alle wollen zum Sarg, ihn berühren – das ist das Ziel. Dann stehen wir tatsächlich vor dem Eingang zum Allerheiligsten: dem marmornen Sarkophag. Eine Kiste, prunkvoll gülden leuchtend hinter einem Gitterwerk aus Silber und Gold, aber kiloweise. Und drumherum nichts als Leiber, jetzt endgültig verkeilt, verschlungen, in einem Sog in immer wechselnden Richtungen. Schräg von der anderen Seite, hinter einer dicken Glasscheibe, schiebt sich, wegen der monochromen schwarzen Gewänder noch massenhafter und unheimlicher erscheinend, eine Welle betender Frauen entgegen. Aus dem Chaos manchmal spitze Schreie und dann mal grummelndes Donnern wie eine kleine Eruption. Ist das der Moment, wenn sie dran sind am Schrein? Wahrscheinlich.

„Im Haram ist der Teufel los“, lacht Siamak nachher. Auch in den Straßen vor dem Haram: Eine Mischung aus Flohmarkt und Open-Air-Basar in alle Richtungen. Kitschkrimskrams in allen Plastikvariationen, Betsteine, Gebetsketten in Regenbogenfarben, Spielzeugschund, Tücher, Stoffe. Nippes ohne Ende. Dazwischen ein Gewimmel von Siechen, Bettlern, Betenden und Kranken, die sich Erlösung und Heilung erhoffen. Landestypischstes Kleinod ist die iranische Dreifaltigkeit: Schlüsselanhänger mit Chomeini- Bild, Marlboro-Grafik und einer Handgranate. Wenn Religion auch Geschäft ist, ist Mashhad das Lourdes des Islam.

Und dieses allgegenwärtige Hupen. Autolärm ist die hektische Melodie eines Landes, in dem sonst fast jede öffentliche Musik fehlt. Alles fährt. Ständig. Achtspurig auf vierspurigen Straßen. Kein Wunder, bei einem Spritpreis von knapp zehn Pfennig pro Liter. Unter dem Heiligtum bauen sie gerade eine mehrspurige Schnellstraße, die den Gebäudekomplex umkreist. Eine Heiligtumsautobahn.

Nach dem Beten ist vor dem Essen. Mittags fahren wir aufs Land, eine Stunde oder zwei durch Steinwüsten und Gestrüppwälder Richtung Süden, wo ein paar Stunden weiter der Wüstenort Tabas liegt. Dort war Jimmy Carters Hubschrauberarmada zur Rettung der Teheraner Botschaftsgeiseln 1980 im Sandsturm zerschellt. Und der Haß auf Uncle Sam endgültig zementiert. Einerseits. Andererseits sind im heutigen Iran US-Produkte ebenso heiß begehrt wie (offiziell) verpönt.

Plötzlich eine Oase in der Ödnis: ein Restaurant in einem dichten Hain mit einem mächtigen Springbrunnen. Ein üppiges Idyll mit Piniengewächsen, Birken, Buchenarten. Die Sommerfrische- Besitzer sind Verwandte der Fattahis. Und sie bewirten uns auf unserer Sitzstatt auf dem Waldboden: Zum knusprigen Zangak (persisches Brot, auf Kieselsteinen gebacken) gibt es nach Tagen des immergleichen Kebab-Einerleis einen köstlichen Kichererbsen-Eintopf aus Tonschüsseln mit Lamm, Tomaten und einer kühnen Gewürzkomposition. „Die Spezialität heißt Dysi“, sagt Siamak schmäcklerisch, „wie der aus der DDR, nur mit D: Dysi.“

Am zweiten Tag im Haram schafft auch Siamaks Mutter den Griff ans Allerheiligste. Ihre Augen leuchten.

Siamaks Ehefrau Fanusch, ohnehin mäßig religiös gekleidet mit ihrem modernen Mantel, berichtet eher routiniert vom Touchdown ihrer Finger am Schrein. Pflichterfüllung, oder kann sie ihre Rührung nur gut verbergen?

Die Tante muß wegen streßbedingten Bluthochdrucks behandelt werden beim iranischen Roten Halbmond. Da wird, in einem Schuppen vor dem Haram-Eingang, auch Blut gespendet. Ein großes Chomeini-Bild auf der Eingangstür zeigt, in einer Art spätpersischem Symbolismus, den Ex- Führer spendend.

Wir begreifen nur wenig von diesem Land. In Fahrschulautos darf eine Frau beim männlichen Lehrer nur in Gegenwart einer Aufpasserin lernen. Überall die Geschlechtertrennung, selbst in Linienbussen, beim Freitagsgebet. Und kaum ist zu Hause die Tür ins Schloß gefallen, fallen den Frauen die Hüllen vom Kopf. Manchmal mit blondierten Überraschungen. Wie anders jemand aussehen, wirken kann! Wenn es klingelt, geht automatisch der Griff zum Kopftuch. In Teheran lernen wir Merad kennen, der sich bei einem Westaufenthalt im Übermut die US- Flagge hat auf den Oberarm tätowieren lassen: „Ich darf in kein Schwimmbad mehr, mich nie mehr vor Unbekannten ausziehen...“

Und da war immer unsere – letztlich völlig unnötige – Vorsicht: Bloß keine Fehler machen! Besonders im extrakonservativen Mashhad nicht, wo die Schleier der Frauen sichtbar tiefer gezogen sind und die Locken verdeckter als im liberaleren Teheran. In Mashhad war auch der Hamburger Kaufmann Helmut Hofer, zwischenzeitlich vom Tod durch Steinigen bedroht, beim verbotenen Treffen mit jener Perserin erwischt worden, von der schon gemutmaßt wurde, sie sei eine Prostituierte im Auftrag des Geheimdienstes gewesen.

Abends in der Mashhader Teestube Khan Dabei stutzen wir schon wieder: Neben dem ortsüblichen Schmuck vom Chomeini in Öl über Amphoren bis zum verblichenen Bildmotiv des Imam entdecken wir, rückwärts zum Eingang, wie versteckt, ein gut zehn Quadratmeter großes Wandgemälde von Rockmusikern. An den Instrumenten: eine Versammlung von Leichen. Was soll das? Protest? Gegenkultur? Aufbruch? Im Iran dieser Tage ist soviel möglich und unmöglich.

Der junge Wirt erklärt mit stolzer Stimme, dies sei eine Auftragsarbeit, der Maler habe die Dekadenz westlicher Musik darstellen sollen. Als das Werk präsentiert wurde, sollte eine Kapelle traditionelle Musik kontrapunktisch spielen, mit speziellen Lichteffekten und programmatischen Reden. Ein Happening des Traditionalismus. Aber: Die Kulturbehörde untersagte das Spektakel zu Ehren des Althergebrachten: Livemusik sei halt in der heiligen Stadt Mashhad grundsätzlich verboten. Seitdem steht das Protestbild wie zum Protest gewendet.

Siamaks Schwiegermutter sagt beim Rückflug, sie sei nicht an den Schrein herangekommen. Aber den Versuch war es wert, die Nähe, die Gemeinsamkeit mit den unzähligen anderen im Gewimmel. Siamak weiß: „Man muß immer damit rechnen, daß man etwas nicht schafft. Das gehört dazu.“ Andreas, der Fotograf, lächelt. „Ich hab den Schrein berührt, ich war mittendrin im Menschenknäuel, wißt ihr, als ihr mich mal kurz gesucht habt. Es war völlig verrückt.“

Bitte? Möge Allah das nicht gesehen haben! Aber wir glauben es ihm ohnehin nicht so recht. Wenn da nur nicht dieser Schimmer in seinen Augen wäre...