Wo Anthroposophie wehtut

■ Martin Barkhoff, Medienreferent der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, über den besonderen Umgang mit einer Institution zwischen Leidensdruck und Produktivität

Dem Vergnügen, an der eigenen Unvollkommenheit zu leiden, geben sich Anthroposophen gerne hin. Das muß nicht verwerflich sein. Denn was sich einerseits als eine Art intellektueller Droge mißbrauchen läßt („Ich bin kaputter als du!“), ist ja andererseits auch ein Stoff, aus dem Motivation gemacht ist.

Die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland scheint jedenfalls zu den Orten zu gehören, an denen solches Unbehagen auf mehr oder weniger produktive Weise gepflegt wird. Das attestiert sogar ihr Generalsekretär Friedhelm Dörmann: „Ich kenne niemanden, der nicht an der Anthroposophischen Gesellschaft leidet.“ Diese tendenzielle Unbehaglichkeit macht vielleicht auch erklärlich, weshalb die Anthroposophische Gesellschaft im Verhältnis zur einschlägigen Szene eher klein ist. Letztere nämlich umfaßt in der Bundesrepublik, grob überschlagen, mehr als 200.000 Menschen. Die Anthroposophische Gesellschaft hat demgegenüber nur 20.000 Mitglieder (weltweit 50.000), und natürlich sind die vielleicht 400 Gruppen und ungezählten Arbeitskreise unter ihrem Dach nicht durchweg Zirkel der produktiven Unrast.

Die Organisationsform der Gesellschaft ist eine charakteristische Mischung aus Zentralismus und anarchischer Lokalautonomie. Zentralisierend wirkt, daß der Mitgliederbeitrag zu großen Teilen dazu dient, das Goetheanum in Dornach zu finanzieren, die „Freie Hochschule für Geisteswissenschaft“. Das ist immerhin ein Betrieb mit 300 Mitarbeitern in den Funktionsbereichen Hochschule (ca. 500 Studenten), Theater sowie einem Kongreßzentrum, das jährlich rund 80 Veranstaltungen mit Teilnehmerzahlen zwischen 50 und 1.000 ausrichtet. Ein solcher Apparat bündelt naturgemäß einige Energie.

Das anarchische Moment wiederum ist dem Umstand geschuldet, daß die Mitglieder innerhalb der Gesellschaft jede Art von Untergruppen bilden können, um für ihre besonderen Bedürfnisse und Interessen eine eigene organisatorische und soziale Basis zu haben. Ein Resultat dieser potentiellen Vielfalt sind die lokal sehr unterschiedlichen Strukturen: So hatte die Gesellschaft in Stuttgart für die dortigen etwa 2.700 Mitglieder lange nur ein organisatorisches Gefäß, während sich in Berlin gerade mal 500 Leute in acht stark voneinander abgegrenzte Gruppen verzweigten.

Die Gruppenbildung hat indes tiefe historische Wurzeln. Schon 1923, als ein Konflikt innerhalb der damaligen Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland nicht beizulegen war, veranlaßte Rudolf Steiner die Gründung einer zweiten, der Freien Anthroposophischen Gesellschaft („Im Geistigen vereinigt man, indem man differenziert“). Solch offene Umgangsformen haben die Gesellschaft allerdings nicht davor bewahrt, rund zehn Jahre nach Steiners Tod (1925) im großen Stil international auseinanderzubrechen. Die Aufspaltung trat an der soziologisch wohlbekannten Bruchstelle ein. „Familie“ (z.B. Ehefrau, Kinder, Erben) stehen gegen „Schüler“ (Mitarbeiter, Kollegen).

Diese Fraktionierung erreichte ihren ersten Höhepunkt 1935 mit der Regelung des Führungsanspruchs durch den Ausschluß prominenter Schüler Steiners aus dem Vorstand am Goetheanum (Spaltung der deutschen und Austritt der niederländischen Gesellschaft). Im folgenden Streit um die Rechte an Steiners Nachlaß formten sich dann insgesamt drei organisatorisch und anschauungsmäßig komplett getrennte Organisationen aus. Bis in die 50er Jahre war dieses Schisma der Hauptleidensgegenstand der Anthroposophen.

Erst in den 60er Jahren sorgte dieses Leiden für genügend Produktivität, begannen die Protagonisten der Fraktionen wieder in einer Gesellschaft zusammenzuarbeiten – ohne Anschauungskompromisse. Heute spielen die Spaltungen kaum mehr eine Rolle. Diese Überwindung einer durch 30 Jahre ausgehärteten „Konfessionalisierung“ ist wohl eine geitesgeschichtliche Singularität.

Heute haben die Anthroposophen mit ihrer Gesellschaft andere Probleme, wirkliche und eingebildete. Die Institution zeigt wenig Profil, weder innerhalb der „Szene“ noch nach außen. Sie steht auch nicht in dem Rufe, daß die Erneuerung der anthroposophischen Arbeit von ihr ausginge. Die wäre aber dringend erforderlich. Allenthalben stößt man auf die Ansicht, daß Forschung nottut. Es wird konstatiert, daß die anthroposophischen Denkschulen nicht mehr in der Lage sind, die unkritische „Vulgäranthroposophie“ zurückzudrängen. Und der Zustrom in die anthroposophischen Berufe und Ausbildungsstätten läßt seit einigen Jahren deutlich nach.

Man hört nichts von der Entstehung neuer Wissenschaftszweige oder Zivilisationstechniken, wie sie das anthroposophische Leben der 60er und 70er Jahre prägten. Damals entstanden u.a. die Schulen der goetheanistischen Naturwissenschaft mit ihren Ausläufern bis in die Pharmaindustrie, die Theorien der Organisationsentwicklung, die Gemeinschaftskrankenhäuser, das anthroposophische Bankwesen und vieles andere, auf das sich die Sehnsüchte der 68er- Generation richteten. Anthroposophen wie Joseph Beuys oder Saul Bellow standen an Brennpunkten der geistigen Entwicklung. Diese Erfolge aber ergaben sich wie von allein; jedenfalls waren sie zum geringsten Teil ein Verdienst der von ihren Spaltungen noch stark in Mitleidenschaft gezogenen Anthroposophischen Gesellschaft. Heute steht sie da mit dem welken Lorbeer, und es tut wieder einmal besonders weh.

Die scheinbar einfachste Linderung scheint vielen, vom Funktionär bis zum publizistischen Berufsrevolutionär, der Abschied: „Man sollte die Gesellschaft einfach auflösen!“ Eine Fluchtreaktion. Wahrscheinlich könnte man an der Häufigkeit dieses Wunsches messen, ob der Leidensdruck wieder einmal groß genug ist, um Produktivität zu erzeugen.