Knoten in der Seele?

Prägt eine Waldorfschule für den Rest des Lebens? Und warum sollte es dort weniger Spinner geben als anderswo?  ■ Von Kilian Wahl

Ach, du bist Waldorfschüler!“ ist ein Ausruf, den man als ein solcher wohl sein ganzes Leben lang zu hören bekommt. Und dann geht es los: die Fülle der Vorurteile, der negativen und der positiven, und am Ende warten dann erwartungsvolle Augen auf ein schlaues Statement. Natürlich hält man immer als das Paradebeispiel der jeweiligen Auffassung her. Sympathisanten fühlen sich bestätigt: Es ist doch offensichtlich, daß man etwas Besonderes ist und tut, eben weil man von der Waldorfschule kommt. Kritiker schauen einen mitleidsvoll an, nach dem Motto: „Das tut mir leid für dich! Was hattest du denn für eine Behinderung? Immerhin kannst du ja jetzt lesen und schreiben.“

Es ist ein interessantes Phänomen, daß Waldorfschulen und -schüler immer noch als eine außergewöhnliche Spezies betrachtet werden. Insofern prägt ein solches Institut seine Absolventen in der Tat ein ganzes Leben. Eine differenzierte Auseinandersetzung findet in den wenigsten Fällen statt. Noch interessanter ist aber der Fakt, daß die Welt aus lauter Waldorfspezialisten besteht: Jeder hat eine Meinung dazu, hat irgend etwas gehört.

Die Tochter der Schwägerin der Nachbarn wurde auf der Waldorfschule geschlagen! Das habe man ja schon immer gewußt, daß Waldorfpädagogen repressiv und autoritär seien. Ein anderer weiß von Statistiken zu berichten, denen zufolge Waldorfschüler in höherem Maße Karriere machen als Staatsschüler – also eine Eliteschule? Den einen ist sie zu links, den anderen zu konservativ. Leider tun die Waldorfschulen selbst oft noch ein übriges, die Klischees aufrechtzuerhalten.

Zunächst einmal ist eine Waldorfschule nichts Besonderes. Man geht morgens hin und mittags wieder nach Hause. Dazwischen liegt Unterricht, der manchmal gut und manchmal schlecht ist. Als Schüler ist man von den Lehrern genauso genervt wie an anderen Schulen auch. Den Unterschied zur Staatsschule bemerkt man nicht. Wie auch – man hat sie ja schließlich nicht besucht. Im Freundes- und Nachbarkreis stellt man fest, daß jeder ganz individuelle Erfahrungen mit der Schule macht, die er besucht. Da ist man als Waldorfschüler keine Ausnahme. Es gibt den Prototyp „Staatsschule“ nicht und den Prototyp „Waldorfschule“ ebensowenig.

Fakt ist, daß Waldorfschulen, ein höheres Fachangebot bieten – wenn sie denn so funktionieren wie intendiert, was nicht immer der Fall ist. Tischlern, Nähen, Plastizieren, Kochen, Buchbinden, Weben, Spinnen, Tanzen, mindestens ein Orchester, ein Chor und vieles weitere mehr gehört, zusätzlich zu den klassischen Unterrichtsfächern, zum Lehrplan eines jeden Schülers. Ein Waldorfschüler ist also im Leben in der Lage, eine Suppe zu kochen, einen Nagel in die Wand zu schlagen und – wenn er sich für das Abitur entschlossen hat – ein Studium aufzunehmen. ein moderner Selbstversorger also. Waldorfschüler mögen deshalb pragmatischer sein. Ich habe sie häufig als sehr kreativ und individuell erlebt. Nicht so festgefahren. Verallgemeinern sollte man diese persönliche Beobachtung aber nicht.

Natürlich gilt auch für Waldorfschulen der Grundsatz: eine Schule ist nur so gut wie ihre Lehrer. Schulen, die sich als eine Alternative begreifen, werden nicht nur von der Gesellschaft in eine Ecke gedrängt. Sie begeben sich auch selber dorthin, teilweise, um sich einer Rechtfertigung und kritischen Auseinandersetzung zu entziehen.

Das birgt die Gefahr des Schmorens im eigenen Saft. Ausdruck davon ist der manchmal sektenhafte Auftritt von selbsternannten anthroposophischen Weltverbesserern, die man im Umfeld von Waldorfschulen mit seligem Lächeln zehn Zentimeter über dem Boden schwebend antrifft. Ich erinnere mich noch gut an diese sehr unterhaltsamen und zu unserer Belustigung beitragenden „Leerkörper“, die mir ernsthaft besorgt mitteilten, daß „das Knötchen in Ihrem gesponnenen Faden ein Knötchen in Ihrer Seele ist“. Warum sollten in Waldorfschulen weniger Spinner rumlaufen als anderswo? Hier dürfen sie unterrichten. Das ist sozial, und einen solchen Anspruch hat die Schule ja schließlich. Im übrigen hört man von solcherart Verfehlungen an Staatsschulen genauso.

Nein, die Auseinandersetzung mit Waldorfschulen sollte auf einer anderen Ebene stattfinden. An die Stelle der Konfrontation und des polemischen Ablehnens oder Bejubelns sollte ein Dialog treten. Längst sind Waldorftraditionen in das Staatsschulwesen eingeflossen, etwa der fächerübergreifende Unterricht oder die Abschaffung der Zensuren in Grundschulen. Auf der anderen Seite sollten Waldorfschulen von ihrem arroganten Anspruch ablassen, die pädagogische Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

Auch in Waldorfschulen gibt es einen enormen Reformbedarf, dem eine bisweilen schwer erträgliche Unbeweglichkeit gegenübersteht. Es herrscht in der Gesellschaft ein breiter Konsens darüber, daß unser Schulsystem reformiert werden muß. Leider ist auch in diesem Bereich festzustellen, daß es keinen ernsthaften Reformwillen gibt. Die Fronten stehen sich in Lagern gegenüber und bewegen sich nicht.

Obwohl man den vielbemühten Blick ins gelobte Land jenseits des Atlantik schon kaum noch ernsthaft anführen möchte, hier doch eine Beobachtung: Die Toronto Waldorf School, die ich 1985 besuchte, war eine erfrischende Erfahrung. Amerikanischer Pragmatismus und das Konkurrieren mit anderen Privatschulen machten die Schule sehr flexibel und dicht an den Bedürfnissen der Zeit und der Schüler ausgerichtet. Dogmatismus, ein Problem jedes Schulsystems, konnte man sich nicht leisten. Dort wurde mir auch das Potential von Waldorfschulen klar: die Beweglichkeit, auf die Gesellschaft einzugehen, flexibel zu sein, weil der Waldorflehrer eine große gestalterische Freiheit hat.

Vielleicht liegen die Probleme hierzulande also eher in der deutschen Institutionalisierungswut begründet, dem Dogmatisieren und Beharren auf der „einen Lehre“. In Kanada hörte sich die eingangs erwähnte Feststellung so an: „You go to Waldorf?“ „Yes!“ „Cool, let's play frisbee!“

Waldorfschulen sind nichts Besonderes.

Der Autor wird am 9. Oktober in Berlin eine Podiumsdiskussion mit ehemaligen Waldorfschülern moderieren (19 Uhr, Audimax der Freien Universität).