Notwendigkeit und Form

Anthroposophische Architekten bauen für die Seele, doch schon aus Kostengründen ist die Umsetzung ihrer Entwürfe meist nur mit Abstrichen möglich  ■ Von Lars Reppesgaard

Wie die Arme einer exotischen Pflanze ragen die Flure der Filderklinik in die Heidelandschaft am Rande des schwäbischen Filderstadt. Das dreigeschossige Gebäude, eines von drei anthroposophischen Krankenhäusern in Deutschland, scheint sich an die Hügel zu schmiegen.

Nicht alle Architekten des Büros Bockemühl, Weller und Partner sind strenge Anthroposophen, „aber die Anregungen für die Form des Gebäudes, der Versuch des Organischen, kommen klar aus dieser Richtung“, sagt Hans Georg Weller, der seit über zwanzig Jahren Neu- und Anbauten der Klinik begleitet hat. „Ich würde schon sagen, daß das Äußere dieses Gebäudes ein gutes Beispiel für anthroposophische Architektur ist.“

Auch eine Waldorfschule erkennt selbst ein Anthroposophieunkundiger schon von weitem an ihren abgekanteten Fenstern oder den weit zum Boden heruntergezogenen Dächern. Kubus, Raster und rechter Winkel taugen bestenfalls für den Fabrikbau. Für Schulen, Wohn- oder Krankenhäuser suchen Anthroposophen andere Formen – vor allem Grundrisse, die möglichst ohne rechten Winkel auskommen. Doch einfache Rezepte gibt es nicht: „Man tut dieser Art der Architektur unrecht“, so Weller, „wenn man sie nur auf das Erscheinungsbild eines Gebäudes reduziert.“

Repräsentation ist dabei zweitrangig, die Gestaltung der Bauten kein Selbstzweck. „Ich würde eher sagen, man kommt von den inneren Notwendigkeiten zur äußeren Form“, meint Weller. Und die ergibt sich zum einen aus dem, was in dem Gebäude passieren soll, zum anderen aus dem anthroposophischen Menschenbild. Ein Gebäude wie die Filderklinik wurde nicht wie andere Krankenhäuser nach rein funktionalen Gesichtspunkten erbaut, sondern so, daß sich der Mensch als „spirituelles Wesen“ dort wohlfühlen kann. Es reicht nicht, sich etwa nur über den Lichteinfall eines Fensters Gedanken zu machen. Der anthroposophische Architekt muß auch in Betracht ziehen, wie sich Gebäude und Räume auf die geistige und seelische Verfassung der Bewohner auswirken. Ähnliche Ansprüche versuchen natürlich auch andere Schulen moderner Baukunst umzusetzen, doch die Anthroposophie hat über Jahrzehnte einen charakteristischen Stil entwickelt.

Bei der Filderklinik sind fast alle Krankenzimmer nach Süden ausgerichtet. Es gibt keine durchgehenden, endlosen Flure, keine glatten, horizontalen Decken. Auch in langen Gängen wird durch Kurven versucht, Intimität entstehen zu lassen. Fünf- und mehreckige Räume sollen die Patienten weniger einengen als rechteckige Krankenzimmer. Fast überall ist der Blick nach außen möglich. „Wenn Sie in so ein Gebäude kommen, verlieren Sie nicht den Bezug zur Umgebung und deshalb auch nicht die Orientierung“, erklärt Weller.

Die Farbgebung der Fassaden geht ebenfalls anthroposophietypische Wege: Beruhigendes Rosa, frisches Blau und anregendes Hellgrün dominieren. Weller ist überzeugt davon, daß die Summe dieser Maßnahmen zum Heilungsprozeß beiträgt: „In dem Gebäude fühlen Sie sich einfach wohl. Das sagen sogar Patienten mit null Ahnung von Anthroposophie.“

Doch natürlich werden nicht nur Kliniken nach anthroposophischen Prinzipien erbaut. Das bekannteste Beispiel dieser Gestaltungsrichtung steht in der Schweiz und ist kurioserweise gleichzeitig eine der frühesten Stahlbetonkonstruktionen in Europa. Das 1928 erbaute Zweite Goetheanum in Dornach ist ein Gebäude nahezu ohne scharfe Kanten, dessen Seitenstreben beinahe fließend in ein vieleckiges Flachdach übergehen. Es entstand nach einem Modell Rudolf Steiners als Gedenkbau für den an gleicher Stelle errichteten hölzernen Doppelkuppelbau des Ersten Goetheanums, der in der Silvesternacht 1923 einer Brandstiftung zum Opfer fiel.

Nach Steiners Tod entwickelten Architekten wie Rolf Gutbrot dessen kunsttheoretische Konzepte zu einer modernen Architekturform weiter, die dem reinen Funktionalismus und auch späteren, fassadenbetonten Entwürfen der Postmoderne entgegenstand, sich dabei aber vor allem an der anthroposophischen Praxis und nicht an ihrer Theorie orientierte. Hans Georg Weller: „Ich habe noch von Gutbrot selbst gelernt, daß es nicht darauf ankommt, in jedem Fall den rechten Winkel zu vermeiden. ,Erst davon abweichen, wenn man dadurch etwas Besseres erreicht‘, hat er immer gesagt.“

Entscheidender als formale Prinzipien sei es, die Entstehung eines Gebäudes als Prozeß zu verstehen, sich auf eine Entwicklung einzulassen. Sinnvoll entwerfen kann demnach nur, wer sich mit den Nutzern des geplanten Gebäudes auseinandersetzt. Bei Projekten wie der Filderklinik werden Mitarbeiter und Therapeuten regelmäßig über sogenannte „Baukreise“ konsultiert.

Allerdings verschwinden anthroposophische Architekturentwürfe oft wieder in der Schublade, weil sie einfach nicht bezahlbar sind. „Ein Rechteck ist einfach, ein Fünfeck aufwendiger, denn jede Ecke ist teurer zu bauen als eine Gerade“, erklärt der Hannoveraner Ludger Meller, der im Febraur dieses Jahres den Anbau für eine Klinik zur Krebsnachsorge am westfälischen Schloß Hamborn fertiggestellt hat. Fünf- oder gar sechseckige Räume finden sich dort nicht. „Ideen aus der anthroposophischen Architektur wurden hier im Baukreis vor allem unter den Therapeuten heiß diskutiert“, erklärt der ehemalige Leitende Arzt Michael Brook. „Aber umgesetzt werden konnte davon aus Geldgründen so gut wie gar nichts. Schon ein nach anthroposophischen Gesichtspunkten gestaltetes Fenster ist doppelt so teuer wie ein normales, denn eine Serienfertigung der Teile ist nicht möglich.“

So geriet der viereinhalb Millionen Mark teure Bau eher konventionell: Schallschluckende Fußböden und wärmedämmende Materialien sehen die geltenden Bauvorschriften ohnehin vor, biologische Baustoffe finden sich auch in nichtanthroposophischen Gebäuden. „Nach unserem ersten Bauplan“, berichtet Michael Brook, „hätten wir aber getrost sechs oder sieben Millionen verbauen können. Ich weiß kein anthroposophisches Projekt, wo das Geld nicht die Limits setzt.“ Lediglich bei der Farbgestaltung habe man ohne Wenn und Aber anthroposophische Ideen umsetzen können. „Aber die ist ja auch nicht teuer.“