■ Der rationale Wähler (3): Jahrelang stand das Milieu treu zu den Grünen, jetzt, wo es drauf ankommt, neigt es zum Defätismus
: Die Angst der Wähler vorm Dreimeter

Von Mr. Bean, der in Deutschland als großer Komiker gilt, gibt es eine schöne Szene. Er gockelt durch ein Hallenbad und besteigt fröhlich und unbekümmert ein Dreimeterbrett. Oben angekommen, achtet er selbstgefällig auf Wirkung und begibt sich in Positur zum Absprung. Erst als er die Tiefe der Wasser realisiert, die vor ihm liegen, wird ihm seine maßlose Prätention bewußt, und die haut ihn regelrecht um. Ängstlich kriecht er auf dem Boden des Absprungbretts, während ein paar Knirpse den Hasenfuß, der Angst vor der eigenen Courage bekommen hat, verwundert betrachten und auf seinen Absprung warten. Irgendwie erinnert mich diese Szene an die Bündnisgrünen kurz vor der Wahl. Nicht, weil Joschka Fischers Mienenspiel sich dem von Mr. Bean gelegentlich stark annähert, sondern weil ihre Abonnementwähler derzeit eine ähnliche Turn- oder besser Abtörnübung kurz vor dem Sprung aufführen. „Bis ins Mark verunsichert“, beschrieb die Zeit das Personal der Bündnisgrünen. Und bei ihren potentiellen Wählern macht sich Defätismus breit. Oder ist es rationale Einsicht in das eigene Unvermögen?

Die Zahl der Leute mehrt sich, die einem in demselben Brustton der Überzeugung, mit dem sie fast zwanzig Jahre zur Wahl der Grünen aufgefordert haben, nun davon abraten. Sie führen alle möglichen Bedenken an, die sie nun, wo sie endlich springen müßten, in Versuchung führen, das Sprungbrett rückwärts wieder zu verlassen. Die einen versteifen sich auf die Große Koalition, die anderen sprechen sich gleich für die Fortsetzung der Regierung Kohl/Gerhardt aus. Sicher ist sicher. Wenn man, wie der harte Kern der grünen Wählerschaft, in die Jahre kommt, macht man keine Experimente mehr. Außen- und europapolitisch, sagen sie, steuerten wir in tiefe Wasser; wenn gleich zwei Präsidenten so nahe am Impeachment stehen, soll man den alten Lotsen lieber nicht von Bord schicken. Wirtschafts- und sozialpolitisch seien die Ökosteuern und das Bündnis für Arbeit angesichts der leeren Kassen bloße Windeier. Und Steuer- und Rentenreform seien eben besser bei den Großparteien aufgehoben als bei Rot- Grün.

Das sind Argumente rationaler Wähler, die sich vom rein gefühlsmäßigen und milieubedingten Zuspruch zu den Bündnisgrünen lösen und Kassensturz machen. Jahrelang waren die Grünen eine wesentlich mit sich selbst beschäftigte Besenstielpartei; ganz egal, wer aufgestellt war, er wurde vom Milieu gewählt. Doch seit der „Ernstfall“ (Fischer) eines Regierungs- und Politikwechsel vor der Tür steht, stellen Anhänger und Sympathisanten vermehrt fest, daß nicht nur dessen weltwirtschaftliche Risiken groß, sondern auch die Kosten für einen selbst nicht unbeträchtlich sind.

Beansche Angst vor der eigenen Courage kennzeichnet das „Lager“ von Rot-Grün. Die SPD vermeidet jede inhaltliche Festlegung auf einen solchen Politikwechsel, und wo sie seine Substanz jenseits der „unverbrauchten“ Person Gerhard Schröders andeutet, hat sie mit dem „rot-grünen Projekt“ von einst nur noch wenig gemein. Die Bündnisgrünen haben sich leider ebenso zurückgenommen, statt diese Inhaltslücke im Wahlkampf zu füllen. Der Schulterschluß zwischen Fischer und Trittin minderte zwar den bei den Grünen ausgeprägten Hang zur Selbstzerstörung und Chancenzertrümmerung, aber beide zusammen und der Rest der Partei versäumten es, machten jedenfalls einer an einem Regierungswechsel interessierten Öffentlichkeit nicht richtig deutlich, daß sie sich als pragmatische ökologische Bürgerrechtspartei von der SPD ebenso unterscheiden wie von der Union und daß sie in dieser programmatischen Äquidistanz verdienen, als dritte Partei und neues Zünglein an der Waage ernst genommen zu werden. Sie haben sich in ein rot-grünes Bündnis einspannen lassen, dessen Substanz den Wählerinnen und Wählern immer schleierhafter geworden ist. Dabei liegt auf der Hand, daß die ökologische Erneuerung und eine dementsprechende Umgestaltung des Finanz- und Steuersystems der beste Weg ist, in einem Hochlohnland auf Dauer Arbeit zu schaffen und besser zu verteilen und den „Standort Deutschland“ auf dem Weltmarkt zu verteidigen, ohne auf neue Akzente in der Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik und nicht zuletzt bei der Reform des Welthandels- und Bankensystems verzichten zu müssen. Statt dies deutlich zu machen, werden in der Partei bereits die Messer gewetzt für den Tag danach und Konzepte diskutiert, wie die innere Machtbalance zwischen den Parteiflügeln in der Oppositionsrolle neu austariert werden soll.

Der grüne Apfel fällt womöglich nicht weit vom Birne-Stamm; auch das ureigene Potential von Rot-Grün unterscheidet sich kaum vom deutschen Durchschnittswähler, der sich an von ihm selbst verursachten Machtwechseln nicht interessiert zeigt und solche den Koalitionsabreden der politischen Elite überläßt. Treue zu einer Partei und ihrem Programm ist in der Politik ebenso selten und fehl am Platze wie Dank. Mit dem moralischen Zeigefinger kommt man also bei den virtuellen Grün-Wählern, die sich am 27. September schon als Ex-Grüne verhalten wollen, nicht weit. Vielleicht aber helfen rationale Gegenargumente gegen das nur vermeintlich rationale Zurückschrecken vorm Ernstfall. Was fehlte einer Regierung Schröder/Fischer, was die amtierende Koalition angeblich hat? Vor allem Erfahrung, gewiß. Die sechzehn Jahre währende Ära Kohl hat wenig Chancen geboten, sich auf nationalem und internationalem Parkett zu bewähren. Dort werden Rote und Grüne einiges Lehrgeld bezahlen müssen, aber kaum mehr als der pfälzische Provinzfürst und sein einsprachiger Genscher von 1982 an oder gegebenenfalls Schäuble und Rühe jetzt, wenn sie diese beerben sollten. Gerhard Schröder ist welt- und europapolitisch ein unsicherer Kantonist, aber Fischer kein Anfänger mehr; man kann ihnen zutrauen, Krisen ebenso und besser zu meistern als der nach rückwärts gewandte Euro-Kanzler oder gar ein Kandidat der Westerwelle-Partei.

Vor allem aber ist ihnen trotz aller berechtigten Bedenken eher zuzutrauen, wirkliche Innovationen anzustoßen. Die Pläne liegen in der Schublade, wenn eine Reform der Staatlichkeit in einem transnationalen Gefüge ansteht, wenn eine andere Regierung auf nachhaltiges Wachstum, ein anderes Steuersystem, soziale Sicherung via Bürgergehalt, eine neue Bildungspolitik und ein reformiertes Staatsangehörigkeitsrecht und nicht zuletzt ein echtes „Bündnis für Arbeit“ zusteuern will. Dieses ist nicht mehr allein oder vorrangig durch Staatsfinanzierung und Schuldenaufnahme, sondern einzig durch dezentrale, gesellschaftliche Initiative und Kooperation zwischen Staat, Betrieben und drittem Sektor zu erreichen. Die Stärke von Rot-Grün besteht vor allem in der besseren Anbindung staatlicher Steuerung an die Zivilgesellschaft. Dort liegt auch der Fundus an Erfahrung, die rot- grüne Kommunal- und Landesregierungen effektiv gesammelt haben.

Rot-Grün kommt nicht mehr von allein. Und gerade eine Regierung dieser Couleur wird scheitern, wenn sie von ihren Anhängern bloß passiv konsumiert wird. Der sich ausbreitende Hang zur Großen Koalition oder zur Fortsetzung der schwarz-gelben hat auch damit zu tun, daß die rot- grüne Option den Wählern mehr Aktivität und Initiative auferlegt, als bloß am 27. September ihre Erststimme der SPD und ihre Zweitstimme den Bündnisgrünen zu geben. Diese Option ist nicht die einzige für einen „Politikwechsel“, aber die einzige, die auf der Gestaltungskraft der Gesellschaft selbst beruht. Deswegen ist sie auch rationaler als die beiden anderen, die hier vorgestellt worden sind: rechte und linke Protestwahl. Beide laufen auf die Festigung des Status quo heraus, der einzig mit einer rot-grünen Regierung (notfalls unter Einschluß der PDS) zu überwinden ist.

Hic Rhodos, hic salta heißt jetzt die Devise. Die Grünen haben lange genug deliberiert, gestritten und politische Passionen geweckt, jetzt müssen sie springen und – Politik machen. Und ihre Anhänger dürfen sich in den letzten Tagen nicht mehr verstecken. Das tut am Ende der Szene übrigens auch Mr. Bean nicht, selbst wenn er nach dem Sprung erst mal die Hosen verliert. Claus Leggewie