Wie wählt Deutschland?

■ Wählen ist schön, wenn Opa Brause bestellt. Wahl ist Qual, wenn keine Benachrichtigung im Kasten liegt. Wahl ist lecker wie Marmelade. Und danach liegt es sich auf der Couch am besten. Die liebsten Wahlgeschichten:

Es ist Wahl, und ich geh' nicht hin. Dabei will ich das Ding endlich von innen sehen. Das Ding, in dem man sich wichtig fühlt – wichtig für Deutschland. Die meisten meiner Freunde waren schon drin, in der Kabine, in die sich auch der Dicke alle vier Jahre zwängt.

Ob er da drin wohl noch atmen kann? Bei dem Gedanken mache ich mir plötzlich Sorgen um ihn. Zum ersten Mal. Doch dann werde ich wieder ruhig: Er weiß ja, wem er seine Stimme gibt; das geht schnell. Und ich? Ich weiß es auch: Nicht ihm, und trotzdem kann ich nicht wählen.

Vor vier Jahren hatte ich ein ähnliches Problem. Da stand ich sonntags vor meinem Gymnasium und pochte an die Tür. Für die Wahlkabine sei ich zu jung, sagten sie mir, boten mir einen Job als Auszählerin an. Ich aber wollte wichtiger sein: ein politischer Mensch. Ja, das klingt gut. Vier Jahre später mit 21 habe ich endlich eine Stimme, aber keinen Stimmzettel.

Warum? Weil ich, wenn ich in Berlin bin, meine Kabine in München nicht besuchen kann, und weil man sich auf die Post nicht verlassen kann.

Es ist Freitag morgen, und ich habe noch immer keine Unterlagen. Während ich auf den leeren Briefkasten starre, fressen sich drei Gedanken in mein Gehirn: Die Post macht mich zur Unwichtigen, Briefwahl ist scheiße, und für Kohl wird's in der Kabine eng. So banal kann also das, was man Wahl nennt, sein.

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Einer meiner Brüder ist geistig behindert. Was aber keineswegs heißt, daß er leicht zu beeinflussen wäre. „Aprikosenmarmelade ist gut. Ja!“ kommt ihm nicht ganz leicht über die Lippen, ist aber sein unabänderliches Geschmacksurteil. Komme, was da wolle. Erdbeermarmelade ist auch gut. „Stachelbeermarmelade ist nicht so gut.“ Da kann er sich schütteln.

Wer aber denkt, damit sei sein Pulver verschossen, kennt meinen Bruder nicht. Unkorrumpierbar ist nämlich auch sein politisches Urteil. Zumindest, wenn es um Bundestagswahlen geht. Landespolitiker kennt er nicht, die kommen wohl nicht oft genug im Fernsehen.

Aber in Kanzlerfragen kennt er kein Pardon, und zwar schon immer. Es war in den frühen Siebzigern, ich war vielleicht elf, er zwölf. Zum ersten und auch gleich letzten Mal hängte ich ein Foto von einem Politiker an die Wand: Willy Brandt. Und mein Bruder? Konterte mit Rainer Barzel! Schrecklich. In der ganzen Familie wählte niemand CDU.

Später, als auch er wählen gehen durfte, blieb er der CDU eisern treu. Ob sie nun die Regierung stellte oder in der Opposition war. Natürlich war es immer etwas merkwürdig, mit ihm ins Wahllokal zu gehen und ihn umständlich sein Kreuz machen zu lassen. Für ihn ist die Prozedur ein wenig aufregend. Und Aufregung mag er gar nicht. Er wurde auch nicht immer mitgenommen. Wenn es aber morgen auch für ihn zur Wahl gehen sollte, kann Helmut Kohl seiner Unterstützung sicher sein. Und diese Stimme gönne ich ihm völlig unironisch von Herzen.

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Die letzten zwei Wahlen zum Bundestag haben mich gelangweilt, sehr sogar. Nicht wegen der Ergebnisse, wegen der auch. Aber vor allem wegen der Küchentische, an denen sie stattfanden. Nur weil man es nicht schafft, am Wahltag da zu sein, wo man gerade gemeldet ist, erfüllt man mit blauem und rotem Briefumschlag seine Bürgerpflicht. Glanzlos. Da war Wählen bei Oldsens schon etwas ganz anderes!

Mit Oma und Opa zum Beispiel. Oma zieht das gute Dunkelblaue an, und dann geht es mit Opas Opel zum Wahllokal, zu Oldsens eben. Durch die Schankstube in den Tanzsaal. Am Tisch vor der grauen Plastikstellwand, der Wahlkabine, sitzt der dicke Nissen, der die Wahllisten bewacht. Vor ihm das Glas weißer Brause, deren Zitronenduft den scharfen Geruch des Korns überdecken soll. Er freut sich, Opa zu sehen. Denn Opa wählt auch CDU.

Unterschreiben, Opa geht ernster Miene zur Kabine, Oma auch. Dann gehen wir in die Schankstube rüber und setzen uns. Opa bestellt dreimal Brause – aber nicht so wie die vom dicken Nissen. Die beiden Ehepaare aus dem Nachbardorf, die „die Roten“ wählen, sitzen schon da. Wir nicken. Da kommen die nächsten. Opa sagt: „Paysens kommen aber spät.“ Und Oma bemerkt, daß „Frau Paysen schon wieder einen neuen Mantel“ hat.

Kein Zweifel, Wählen ist ein gesellschaftlicher Akt. Da kommt die zweite Stimme für die Grünen, sie sagt ernst „Moin“ und geht zu den Wahlkabinen. Über meine Schwester freut sich der dicke Nissen nie so wie bei meinem Opa.

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Nervig ist es, auf einer Wahlparty zu stehen, und zwar egal welcher Partei. Man trinkt und ißt und hat doch nur einen Großbildschirm, auf dem hin und wieder Hochrechnungen zu sehen sind. Dann wird man in Gespräche verwickelt, die man nicht führen will. „Großartig, nicht wahr?“ oder „Vergiß es“ sind die Floskeln, derer sich die meisten bedienen. Da will keine Stimmung aufkommen.

Ein Wahlabend ist nur dann gelungen, wenn man mit der Fernbedienung hin- und herschalten kann. Wenn man sich die Programme so simultan wie möglich zusammenzappen kann. Man kann dann allein vor sich hingrübeln und überlegen, ob Deppendorf oder Bresser nicht doch noch eine Überraschung in der Wählerwanderungsbilanz parat haben.

Ob Peter Hintze von der CDU wieder sein bellendes Lachen anschlägt, die Grünen sich mal wieder als rhetorische Schnarchtüten erweisen und Westerwelle wie stets gut gebügelt daherkommt. Außerdem kann man sich den Abend lang in den Videotext versenken und die ersten Ergebnisse aus den Wahlkreisen abfragen. Anders gesagt: Selbstbestimmt und allein ist man sein bester Regisseur.

Autoren und Autorinnen:

Uta Andresen, Jan Feddersen, Tina Hüttl

Reinhard Krause, Kerstin Willers