Belgischer Innenminister kokettiert mit Rücktritt

■ Der Tod der nigerianischen Asylbewerberin hat politische Konsequenzen. Medien und Flüchtlingsorganisationen hatten die Demission des Innenministers Louis Tobback gefordert

Brüssel (dpa/AFP/taz) – Der Tod der nigerianischen Asylbewerberin Sérima Adamu hat in Belgien eine Regierungskrise ausgelöst. Innenminister Louis Tobback, ein Sozialist, übernahm die politische Verantwortung und bot in der Nacht zu gestern seinen Rücktritt an – um ihn gestern Nachmittag wieder zurückzuziehen und noch einmal zu überdenken. Das Kabinett war am Morgen sofort zu einer Krisensitzung unter Leitung von Premierminister Jean- Luc Dehaene zusammengekommen. Tobback ist Vizepremierminister und seit über 20 Jahren eine tragende Figur der belgischen Sozialisten.

Wie aus der Regierung verlautete, hatten Spitzenpolitiker der Sozialisten und des christdemokratischen Koalitionspartners versucht, Tobback umzustimmen. Außenminister Erik Derycke sagte wegen der Krise ein Treffen mit Palästinenserpräsident Jassir Arafat in Lüttich ab.

An diesem Samstag wird ein Gedenkgottesdienst in der Brüsseler Saint-Michal-Kathedrale für die 20jährige Frau gehalten. Die Proteste von Menschenrechtsorganisationen hielten an. Am Donnerstag abend hatten 2.000 Menschen gegen das Vorgehen der Polizei in der Brüsseler Innenstadt demonstriert. Tobback war bei den Demonstrationen als „Mörder“ beschimpft worden.

Die Nigerianerin war am Dienstag abend gestorben, als zwei Polizisten sie in einem Flugzeug in die Heimat zurückschicken wollten. Sie wehrte sich heftig. Die Polizisten drückten ihr ein Kissen auf den Mund, um ihr Schreien zu unterdrücken. In einem Handgemenge verlor sie das Bewußtsein und fiel ins Koma, aus dem sie nicht mehr aufwachte. Sie starb im Krankenhaus. Sémira Adamu hatte als Grund für ihren Asylantrag angegeben, eine Zwangsehe mit einem 65jährigen Mann in ihrer Heimat eingehen zu müssen. Das wurde nicht anerkannt. Noch am Mittwoch hatte Tobback die Entscheidung der Behörden, ihren Asylantrag abzuweisen, erneut verteidigt. Auch die Methode, ein Kissen zu benutzen, um Schreie und Beißen von Abschiebekandidaten zu unterbinden, sei erlaubt, hatte Tobback geäußert. Gerade Abschiebehäftlinge, die wie Sémira Adamu auf diese Weise ihre Abschiebung zu verhindern suchten, provozierten mehr und mehr staatliche Gewaltanwendung.

Sein Rücktrittsgesuch begründete Tobback denn auch nur damit, daß die Polizisten Fehler gemacht hätten. Gegen die Beamten liefen die Ermittlungen weiter. Einer von ihnen sei wegen Gewalttätigkeiten in einem ähnlichen Fall bekannt, gaben die Behörden bekannt. Gegen ihn war bereits im Januar eine Disziplinarstrafe verhängt worden, da er einen an Händen und Füßen gefesselten Abschiebehäftling geschlagen hatte, als dieser kurz vor der Abschiebung stand.

Tobback hatte den Posten erst im April übernommen, als sein Vorgänger Johann Vande Lanotte wegen des Fluchtversuchs des Kindervergewaltigers Marc Dutroux hatte zurücktreten müssen. Rückendeckung erhielt Tobback von einer großen Polizeigewerkschaft. Auch sie forderte ihn auf, sein Gesuch zurückzuziehen.

Eine formelle Annahme des Rücktritts war gestern zunächst auch deshalb nicht möglich gewesen, da König Albert sich in Portugal aufhielt.