Reclaim the Willy-Brandt-House

■ Rund 500 junge Leute feierten gestern eine Techno-Party vor dem Willy-Brandt-Haus. Zwei Polizei-Hundertschaften guckten zunächst zu, später kam es doch noch zum üblichen Gerangel

Gegen das Rumhängen in miefigen Wahlkabinen tanzten gestern rund 500 Leute in Kreuzberg an. Mehrere Stunden legte die „Reclaim the streets“-Party“ mit lauter Techno-Musik, Tanz und Stelzenlaufen die Kreuzung vor dem Willy-Brandt-Haus in der Stresemann- Ecke Wilhelmstraße für den Autoverkehr lahm. Die Polizei wunderte sich über die unangemeldete Festivität, griff aber zunächst nicht ein.

Pünktlich um 14 Uhr hatte sich ein buntscheckiger Haufen von Jongleuren, Partygästen und Neugierigen vor dem Tacheles eingefunden. Flyer hatten Wochen vorher das „rauschende Fest“ beworben. Der Aufforderung Schrankwände, Sofas und Presslufthämmer mitzubringen, war zwar niemand gefolgt, auf der Oranienburgerstraße flanierende Touristen wunderten sich jedoch trotzdem über die plötzliche Ansammlung von Menschen mit quietschbunten Haaren.

Wohin die Reise gehen würde, war auch den meisten Beteiligten bis zum Schluß völlig unklar. Gegen 14 Uhr 30 setzte sich die Partykarawane in Bewegung. „O Gott, in die U-Bahn“, stöhnte ein Mitläufer mit Nasenring. Auch die Fahrgäste in der U6 schauten ratlos drein, als die vielen jungen Leute sich in die U-Bahn-Abteile quetschten. Am Halleschen Tor stieg der Troß aus und folgte dem Lärm der Trillerpfeifen zum Willy- Brandt-Haus. Hier dröhnte bereits das, was man gemeinhin unter Techno subsumiert. Gäste mit glücklichen Gesichtern und roten Bäckchen tanzten ausgelassen um ein bunt bemaltes Gefährt mit Musikanlage. Partyhelfer sperrten im Nu die Kreuzung mit Seilen ab, zwischen die Ampeln wurden Hängematten gespannt. Ein Versuch der Polizei die Musik abzustellen und einen Initiator ans Schlaffittchen zu kriegen schlug fehl. „Wir sind alle verantwortlich“, war die Antwort der Seifenblasen-pustenden und Luftschlangen werfenden Menge. Jongleure und eine Frau mit Bauchladen, in der man auf die Schnelle noch ein Aufbügeltatoo erstehen konnte, machten die Volksfeststimmung komplett.

Anwohner und Passanten wurden aus dem farbenfrohen Spektakel nicht so recht schlau. Eine spazierengehende Familie fand das Fest „super, aber zu viel Polizei dabei. Und was soll das eigentlich?“. Ein anderer Fußgänger mutmaßte: „Da steckt doch Schlingensief dahinter.“

Dabei taten Kinder und Partypublikum das Ihrige, um mit Kreide und Farbe die Botschaft der Party auf die Straße zu malen. „Doofe Autos“ und „Wenn Wahlen etws ändern würden, wären sie verboten“, stand da zu lesen.

Die Straßenparty sei, so die Veranstalter, weder eine Wahlparty noch die Love Parade, sondern eine neue politische Aktionsform. Dabei gelte es, nicht am Tag der Wahl Jubelperser für Gerhard Schröder zu spielen, sondern gegen den „Diskurs um innere Sicherheit“, aktuelle Flüchtlingspolitik und Abbau sozialstaatlicher Absicherungen zu protestieren. Schließlich wolle man sich „nicht auf punktuelles Wahlrecht beschränken lassen“.

Gegen 17 Uhr kam es dann doch zu dem üblichen Demogerangel zwischen der mit zwei Hundertschaften angerückten Polizei und der Partygesellschaft. Bis Redaktionschluß waren zwar sämtliche Telefonzellen entlang der Kreuzung mit roter und blauer Farbe vollgemalt, jedoch noch nicht klar, welches Ende das Fest nehmen würde.

Bereits im Mai hatten etwa 700 junge Leute unter dem Motto „Reclaim the streets“ einen ganzen Nachmittag eine Straßenkreuzung in Mitte mit Jonglieren, Tanzen und Federballspielen für den Autoverkehr blockiert. Die Idee für derlei Wiederaneignung öffentlicher Räume stammt aus London. Hier feiern seit 1995 regelmäßig Autogegner und allerlei Partypublikum mit Musikbeschallung spontane Feste, um gegen die Verödung der Innenstädte durch den Straßenverkehr das Tanzbein zu schwingen. Kirsten Küppers