Foltern im Frack

Verengter Blick, weitgehende Erkenntnisse: Peter Konwitschny inszeniert Alban Bergs „Wozzeck“  ■ Von Kees Wartburg

Will man Ansichten vergrößern und scharf stellen, muß man den Blick verengen. Dann verliert man zwar gewohnte Zusammenhänge aus den Augen, aber dafür entschlüsselt sich einem mit etwas Glück eine Struktur, der gegenüber man vorher blind gewesen ist. In der Physik nennt man diesen Vorgang Unschärferelation, auf dem Theater sagt man dazu zeitgenössische Inszenierung.

Peter Konwitschny, der Alban Bergs Büchner-Adaption Wozzeck für die Hamburgische Staatsoper neu inszeniert hat, beherrscht dieses Prinzip bis zur Verstörung des Betrachters, der ein psycho-soziales Drama wie Woyzeck gerne auch als solches verkleidet bekommt. Konwitschny aber räumt alles weg, was die Armut des Protagonisten für die Reichen im Saal imitieren könnte und enthebt die Tragödie ihres sozialen Kontextes. Eine Frack- und Pomaden-Demokratie im leeren, weißen Raum stellt das Opfer von Menschenversuchen in dieselbe Erscheinungsreihe wie seine Peiniger. Gestische Symbolik, schauspielerische Raffinesse und als destruktives Allmachtssymbol ein permanenter Geldregen stellen die Differenziertheit her, die das brutale Stück verlangt.

Die Frage stellt sich natürlich sofort, ob diese Reduzierung eine genügend klarsichtige Interpretation des Stoffes liefert, um den Verlust dokumentierender und rekonstruierender Präzision auszugleichen. Konwitschny erlaubt einem hier keine leichte Antwort, weil er die Abstraktion der Mittel durch eine Personenführung bricht, die für die Oper überaus schauspielerisch, sensibel und mit Respekt vor Sehnsucht und Verzweiflung gelingt. Das kalte Symboltheater liefert, anders als bei den Robert Wilsons dieser Welt, nur den Kontrast für die Aufblätterung der Seele, auf die sich Konwitschny eigentlich versteht. Die Demonstration von Geld als Verderber menschlicher Erlebnisfähigkeit dagegen, die in der Beschränkung auf dieses einzige Requisit bis zur reflexiven Zwangsernährung getrieben wird, mag in der Oper durchaus eine Provokation darstellen, für die Dimension des Stückes ist dieses Erklärungsfundament sicherlich zu schmal. Und auch die Neutralität des Fracks als Gleichmacher überschätzt Konwitschny gehörig. Die Salon-Verkleidung ist eine schichtspezifische Eitelkeit und damit keineswegs die symbolische Ein-ebnung von Unterschieden.

Dennoch gelingt Konwitschny eine zumindest ästhetisch feinnervige Darstellung. Der eigentliche Erfolg dieses Konzeptes sind aber die darstellerischen Leistungen von Bo Skovhus und Angela Doneke. Der Däne und die Hamburgerin, die hier ihr Lokaldebüt am Großen Haus gab, verleihen die Nuancen großen Theaters, die eine konzertante Aufführung zum Sprung ins Bühnenwirksame dringend braucht. Skovhus mal als halber Mensch, dann als Herrenreiter belebt Woyzeck ganz eigen und stimmig. Und Denoke gestaltet das Gefühlsdreieck aus Hingabe, Sehnsucht und dunklen Vorahnungen mit einer Leidenschaft aus, wie man sie in der Kunstwelt Oper selten sieht. Daß Ingo Metzmacher eine ebenso dramatische wie transparente Interpretation von Bergs Hauptwerk liefert, erlaubt es, von einer großen Aufführung zu sprechen, deren Live-Mitschnitt demnächst auch als CD erhältlich ist. Hingehen und anschauen ist trotzdem die bessere Bewegung.