Die Grünen vor der Reifeprüfung

■ Seltsam gedämpft war nach der Wahl die Stimmung bei den Bündnisgrünen. Ganz allmählich erst begreifen Fischer, Müller, Trittin und Co, daß ihre Partei voraussichtlich in Deutschland mitregieren wird. Aus Bo

Die Grünen vor der Reifeprüfung

Ist das bei Helmut Kohl auch immer so?“ fragt eine Mitarbeiterin der Parteizentrale von Bündnis 90/Die Grünen überwältigt. Im Saal der Bonner Bundespressekonferenz sind sogar Stehplätze knapp, als Partei- und Fraktionsspitze der möglichen neuen Regierungspartei ihre erste gemeinsame Stellungnahme abgeben. Ja, das war bei Helmut Kohl auch immer so. Nun aber wohl nicht mehr.

Erst ganz allmählich begreifen selbst innerhalb der Partei viele, daß die Grünen voraussichtlich tatsächlich in Deutschland mitregieren werden. Bis unmittelbar vor der Wahl war die Frage, ob sie denn jetzt erwachsen seien oder wann sie es vielleicht werden, beliebter Gegenstand filigraner Leitartikel. Jetzt erklärt der designierte Kanzler Gerhard Schröder den bisherigen grünen Fraktionschef Joschka Fischer öffentlich für „vorstellbar“ im Amt des Außenministers. Warum bloß freut sich kaum jemand so richtig?

Seltsam gedämpft war die Stimmung bei den Grünen bereits am Wahlabend, und auch gestern wollte jubelnde Begeisterung einfach nicht aufkommen. Eher war Erleichterung und auch Erschöpfung nach dem langen, anstrengenden Wahlkampf spürbar. Der sei „verflucht hart“ gewesen, meinte Fischer. „Und die kommenden Jahre werden ebenfalls sehr hart.“ Manche beschleicht angesichts des unerwarteten Erfolgs eine leise Furcht: „Das Ergebnis hat ja mehrere Facetten“, meint eine Mitarbeiterin der Fraktion. „Einigen wird jetzt bewußt, was Verantwortung auch für eine Last bedeutet.“ Eine ihrer Kolleginnen aus der Parteizentrale fühlt sich „ein bißchen wie nach einem Examen. Erst mal ist da ein Loch.“

Einer der wenigen, dem die Freude schon am Wahlabend ganz unverhüllt aus dem Knopfloch schaute, war ausgerechnet der sonst oft unterkühlt wirkende Vorstandssprecher Jürgen Trittin. „Nett“ sei die Atmosphäre bei der ersten Begegnung mit der SPD- Führungsspitze am späten Sonntagabend gewesen, erzählte er. Dann ein kurzes Augenzwinkern: Das Wort müsse er wohl erst mal übersetzen. Wenn ein Norddeutscher „nett“ sage, dann sei das Ausdruck „höchster Euphorie“.

Joschka Fischer war nach dem Treffen in der niedersächischen Landesvertretung schnell verschwunden. Trittin und seine Kollegin Gunda Röstel dagegen blieben noch ein wenig. Sie zeigten Lust auf ein Bier und entspanntes Geplauder. Da aber mußte die Parteispitze erfahren, wie das so ist, von politischen Schmuddelkindern zu künftigen Regenten zu avancieren. Nichts war es mit dem lockeren Beisammensein. Statt dessen drängte sich ein Wald von Kameras, Scheinwerfern und Mikrofonen um die beiden.

Die bisherige Fraktionschefin Kerstin Müller war bei der ersten rot-grünen Begegnung nach der Wahl nicht dabei. Es soll ganz einfach niemand daran gedacht haben, sie zu informieren. Ein unglücklicher Zufall, hieß es in der Fraktion, ohne tiefere Bedeutung. Wie man's nimmt. Immerhin wird am neuen internen Koordinatensystem der Macht bereits gebastelt, auch wenn sich die Führungsspitze offiziell nach wie vor zugeknöpft gibt. Ob es denn schon Personalvorschläge gebe, will ein Journalist von Joschka Fischer wissen. „Unendlich“, erwidert der knapp. „Vom Papst an abwärts alles.“ Trittin meint wenig später, es sei „nicht die Zeit, sich jetzt über einzelne Ressorts Gedanken zu machen“. Wann denn dann?

Mittlerweile steht wenigstens fest, wer neben Partei- und bisherigem Fraktionsvorstand der Kommission angehören soll, die den Koalitionsvertrag mit der SPD aushandeln wird: die nordrhein- westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn, der Abgeordnete und ehemalige Parteichef Ludger Volmer, die Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, die Berliner Fraktionschefin Renate Künast und Fritz Kuhn, ihr Amtskollege aus Baden-Württemberg, werden dem Länderrat am kommenden Sonntag zur Wahl vorgeschlagen.

Leicht werden die Verhandlungen nicht werden. „Kohl hinterläßt eine schwierige Lage“, sagte gestern Kerstin Müller und wies auf die hohe Arbeitslosigkeit, die Abgabenlast und die Haushaltslöcher hin. Nur bei wenigen Themen wie etwa der doppelten Staatsbürgerschaft lassen Grüne Zuversicht erkennen, daß eine rasche Einigung mit der SPD möglich sein wird. In anderen Bereichen üben sie sich in auffallender Zurückhaltung. Sie sei „ganz optimistisch, daß wir einen raschen Einstieg in den Ausstieg bekommen“, erklärte Parteichefin Gunda Röstel zum Thema Atomenergie. Womit sie die entscheidende Frage des Zeitplans weiterhin elegant umgangen hat.

Verhandlungen „auf Augenhöhe“, aber keine Vorbedingungen – das ist der Kurs, den die grüne Führungsspitze öffentlich beharrlich fährt. Daß allerdings mit der ökologischen und sozialen Reform der Gesellschaft in einer Regierungskoalition wenigstens begonnen werden wird, haben sie im Wahlkampf versprochen.