Der Boß der Genossen

■ Der Boß der Genossen Schröder an der Macht: Der Wahlsieger will Rot-Grün. Als kommender Bundeskanzler macht Schröder schon jetzt deutlich, wer das Sagen hat – und das nicht nur in der eigenen Partei.

Ein Raunen ging durch die Reihen bei der Wahlfeier in der niedersächsischen Landesvertretung, und ein Spalier bildete sich für BDI- Chef Hans-Olaf Henkel, der energischen Schrittes den Raum durchmaß. Aber Gerhard Schröder, der neue Bundeskanzler, dachte gar nicht daran, Henkel auch nur einen Schritt entgegenzukommen. Er schüttelte eine Hand ab, die ihn in dessen Richtung drehen wollte, und wandte sich ab.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie muß sich nach dem Regierungswechsel wohl an andere Spielregeln gewöhnen. Schröder hat es Henkel nicht verziehen, wie er sich im Wahlkampf für die Koalition eingesetzt und sich einem Bündnis für Arbeit unter Führung einer SPD-Regierung verweigert hat. Aber dann, als Henkel schließlich doch noch seine Glückwünsche überbracht und gefragt hatte, „Habt ihr keine Zigarren hier?“ übernahm Schröder die Initiative. Er drehte Henkel in Richtung der Kameras, schlug ihm kumpelhaft auf die Schulter, reichte ihm demonstrativ die Hand, als gälte es, bereits das Bündnis für Arbeit zu feiern, und rief breit grinsend: „Dem wollen wir richtig schaden“ und „den haben wir fertig“. Die Botschaft war klar: Schröder vereinnahmt Henkel und nicht umgekehrt.

Schröder ist jetzt der Boß und läßt darüber keine Zweifel aufkommen. Das gilt sowohl für die Bestimmung der Regierungsmitglieder, die „klar seine Sache“ sei, wie er gestern betonte, als auch für die Entscheidung der Koalitionsfrage. Noch vor der Präsidiumssitzung bezeichnete Schröder die rot- grüne Mehrheit als „zureichend“ und „genügend für eine stabile Regierung“. Damit beseitigte er praktisch alle Spekulationen. Erst danach ließ sich Fraktionschef Rudolf Scharping vernehmen: Die SPD werde zwar mit der CDU reden, „aber mit Sicherheit nicht über eine Koalition“, sondern allgemein über Politik.

Die Führungsspitze entspricht damit offenbar auch der Stimmung der eigenen Anhängerschaft. Die Meinung der 5.000 Gäste am Wahlabend vor der Parteizentrale war eindeutig. In Sprechchören riefen sie: „Rot-Grün, Rot-Grün!“ Und es war nur schalkhaft gemeint, als Schröder in die Menge rief: „Ich kann euch nicht hören.“

Zwar hatte Schröder in den letzten Monaten immer wieder seine Distanz zu den Grünen herausgekehrt, dabei ging es aber in erster Linie um Wahltaktik. Schröder hatte vor der Bundestagswahl nur eine Befürchtung: daß die Wähler allein aus Angst vor Rot-Grün der SPD ihre Stimme versagen könnten. Deshalb bezeichnete er die Grünen zwischenzeitlich als „regierungsuntauglich“. Deshalb brüskierte er sie kurz vor der Wahl, indem er diktierte, eine von ihm geführte Regierung werde den Transrapid und die Ostseeautobahn unterstützen. Die Wähler sollten wissen, daß die SPD in einer rot-grünen Koalition der Koch und die Grünen bestenfalls der Kellner wären. Grundsätzliche Bedenken gegen ein rot-grünes Bündnis hat Schröder aber nicht. In Niedersachsen hat er als Regierungschef schon einmal mit den Grünen koaliert.

Wie sehr Schröder tatsächlich Boß in der eigenen Partei ist, wird sich erst herausstellen, wenn es um die inhaltliche Umsetzung des SPD-Programms geht. Auf die SPD könnte ein Richtungsstreit zukommen. Nach seiner Nominierung als Kanzlerkandidat hatte Schröder stark auf die Betonung der sozialen Gerechtigkeit gesetzt und sich die Rücknahme der Regierungsreformen auf die Fahnen geschrieben. In seinem ersten öffentlichen Statement nach der gewonnenen Wahl stellte Schröder klar, daß die SPD die Wahl in der „neuen Mitte“ gewonnen habe. „Das ist eine Verpflichtung für unsere Politik in den nächsten Jahren.“ Das spricht zwar nicht gegen einen Kurs fern von sozialer Gerechtigkeit, zeigt aber eine andere Gewichtung. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Clement sagte, Schröder stehe für einen „Kurs der Erneuerung mit wirtschaftlicher Kompetenz“.

DGB-Chef Dieter Schulte und andere machten dagegen gestern deutlich, daß sie den Wahlsieg in erster Linie der Betonung der sozialen Gerechtigkeit zuschreiben. Markus Franz, Bonn