Väterlicher Abgang aufs Altenteil

Helmut Kohl scheint momentan der bestgelaunte Mann der Union zu sein. Warum auch nicht? Schließlich kann er – nun aus zuletzt lästiger Pflicht entlassen – sich freuen, endlich in kein Terminkorsett mehr eingeklemmt zu werden  ■ Von Jan Feddersen

Berlin (taz) – Als suchten sie an ihm Halt. Peter Hintze, kein Kläffer mehr, nur noch zerknirscht und klein; Claudia Nolte, aus müden, bambihaften Augen guckend, wie mühsam aus einem bösen Traum erwachend; Norbert Blüm, rote Flecken auf den Wangen, Tränen offenbar zurückhaltend; Frau Hannelore, vereist zähnebleckend. Anderntags schienen ihm Parteifreunde wie Erwin Teufel, Baden- Württembergs Ministerpräsident, das letzte Geleit aus dem Bonner Regierungsmilieu geben zu wollen, aufpassend, daß er nicht eine Treppe herunterstolpert.

Doch der, dem das Anlehnungsbedürfnis, aber auch die Sorge galt, wirkte entspannt, ja fast privat. Er habe keine Pläne, und das Schönste überhaupt sei: keine Pläne zu haben. Helmut Kohl, der scheidende Bundeskanzler, wirkt, als habe er sich dieses, für seine Partei flächendeckend desaströse Bundestagswahlergebnis insgeheim gewünscht.

Was für ein Unterschied. Als noch in der Nachwahlnacht vom 28. auf den 29. September 1969 CDU und CSU realisieren mußten, daß Willy Brandt als Chef der SPD die oppositionelle FDP für die erste bundesdeutsche Regierung ohne die Union gewinnen konnte, fühlte sich Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger wie viele seiner CDU-Parteifreunde hintergangen: Es war ihnen, als probten die Sozen den Staatsstreich. Auch der SPD-Kanzler Helmut Schmidt zeigte sich 1982 beim Wechsel der FDP in die Koalition mit der Union mindestens verbittert, gedrückt und gekränkt.

Und Helmut Kohl? Der gab sich kurz vor dem Wahlgang am vorigen Sonntag melancholisch und seit den ersten Prognosen und Hochrechnungen wie von einer Last befreit. Daß er mit dieser Haltung fast der einzige in seiner Partei ist, scheint ihn nicht zu stören. Während karrierewillige CDU- Kader wie der Junge-Union-Vorsitzende Klaus Escher ihre Partei plötzlich als „spießbürgerlich“ zeihen und sich darüber freuen, daß es mit der „Ära des Franz Lambert“, einem notorischen Schlagerorgelspieler auf CDU-Parteitagen, nun ein Ende habe; während Sachsens CDU-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf davor warnt, in der Opposition so zu tun, als sei man eine Regierung in nervöser Wartestellung, gibt Kohl ein Lehrstück, wie ein demokratischer Wechsel funktionieren kann: als – je nachdem – traurige oder erfreuliche Normalität.

Kohl persönlich hatte tatsächlich keinen Grund, sich zu fühlen, als sei er mitten aus dem Leben gerissen worden, wie es in Traueranzeigen gerne heißt. Vor der Wahl ließ es der politische Gegner, vornehmlich Gerhard Schröder, an Nachrufen auf den Kanzler Kohl nicht fehlen. Attestierte ihm Verdienste um die deutsche Einheit und die europäische Einigung. Nach der Wahl galt dem Unterlegenen die große demokratische Geste.

PDS-Fraktionschef Gregor Gysi gab, für das bürgerliche Publikum vermutlich überraschend, kund, keinen Haß auf ihn zu haben. Und der sonst schneidige Jürgen Trittin von den Grünen gab Kohl während ihres gemeinsamen TV-Auftritts der „Bonner Runde“ artig die Hand. Der Kanzler in Abwicklung konnte so gar nicht anders als das Gefühl haben, in Frieden aus dem Amt scheiden zu können. Schließlich würde er ja auch auf seinem Schreibtisch keine unerledigten Dinge hinterlassen. Nur aus dieser Haltung heraus konnte er seinen bekümmerten Parteifreunden zurufen: „Das Leben geht weiter.“

Ein Mann, der wirklich nichts mehr nötig hat. Einer, der sich nicht aufdrängen möchte und Ratschläge nur erteilen wird, wenn diese auch erbeten sind. Und ein Mann, der sich selbst täglich die Tugend der politischen Bodenständigkeit in Erinnerung ruft mit dem Hinweis auf seinen Lieblingspapst Johannes XXIII. Der habe stets zu sich selbst gesagt: „Nimm dich nicht so wichtig, Giovanni.“

Kleinbürgerlich inspirierte – und absurde – Fragen, ob er denn nun viel reisen werde, bescheidet Kohl, der die vergangenen Jahre kaum Zeit daheim in Ludwigshafen verbracht hat, ehrlich: „Das wollen wir nicht so arg.“

Ihm scheint also Lästiges genommen. „Es war eine großartige Zeit, in der wir vieles leisten konnten“, meinte Kohl rückblickend. Memoiren sind von ihm nicht zu erwarten, so eitel dürfe man ihn sich nicht vorstellen. Er als „Naßrasierer“ müsse sich zweimal am Tag im Spiegel anschauen. Dann stelle er fest, daß er jünger und schöner werde. Von aller Ironie entblättert, heißt das wohl: Helmut Kohl hat nichts mehr vor, nur noch Privates.

Das ist gefährlich für ihn. Denn was zählt das wirklich bei Männern seiner Generation? Männer, vor dem Zweiten Weltkrieg geboren und noch nicht angefressen von den Spaßgewohnheiten der Achtundsechziger. Von ihnen ist bekannt, daß sie schnell sterben – wenn sie ihr persönliches Werk vollendet wähnen und sich aus der Pflicht entlassen sehen.