Chiapas zählt erst Tote, dann Stimmen

Mexikos Unruheprovinz ist überflutet, Hunderte sind tot, Hunderttausende obdachlos. Dennoch sollen am Sonntag Kommunalwahlen stattfinden. Selbst Teile der Staatspartei verlangen Aufschub  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Fast ein Drittel der südmexikanischen Krisenprovinz Chiapas ist in den vergangenen Wochen von den heftigen Regenfällen verwüstet worden – gewählt werden soll trotzdem. Entgegen den Forderungen von Kirche, Parteienvertretern und regierungsunabhängigen Organisationen hat der Landeswahlrat beschlossen, die für den kommenden Sonntag angesetzten Kommunalwahlen in 103 der 111 Kommunen „ordnungsgemäß“ durchzuführen.

Wer sich am Urnengang ordnungsgemäß beteiligen und sein Kreuzchen für den Gemeindebürgermeister und die Landtagsabgeordneten machen kann, ist allerdings mehr als ungewiß. Denn in den über 20 vom Unwetter besonders betroffenen Gemeinden an der Pazifikküste und in der Sierra – insgesamt in fast der Hälfte der Wahlbezirke – haben die Menschen andere Sorgen. „Wenn wir jetzt bei den Flutopfern ankommen und sie auffordern, im Schlamm ihren Wahlausweis zu suchen und gar einen zu beantragen“, so warnte der Bürgermeister der Landeshaupthauptstadt Tuxtla Gutiérrez, die von der rechtsliberalen Oppositionspartei PAN regiert wird, „dann werden wir wohl bestenfalls wüste Beschimpfungen zu hören kriegen.“

Schwierig, die Toten richtig zu zählen

Auch der Vorsitzende der linksoppositionellen PRD, Andrés Manuel López Obrador, hatte einen Aufschub verlangt, und selbst der Senator Pablo Salazar Mendiguchia von der regierenden Staatspartei PRI hatte sich für eine Verschiebung ausgesprochen. „Wie kann man Stimmen auszählen, wenn in der Nachbarschaft noch die Toten gezählt werden?“

Und schon das Zählen der Toten, die in den Schlamm- und Wassermassen in der ersten Septemberhälfte ums Leben gekommen sind, gestaltet sich als nahezu unmöglich. Offiziell sollen es 185 sein, der mexikanische Caritas- Verband glaubt allerdings eher, daß vier- bis fünfhundert Tote im Schlamm begraben wurden. Noch gelten viele hundert Menschen als vermißt, knapp 300.000 sind durch die Überschwemmungen obdachlos geworden, über hundert Dörfer – nach den Berechnungen der chiapanekischen PRD 350.000 Menschen – sind noch immer weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten.

Insgesamt ist fast ein Drittel der Bevölkerung, über 1,2 Millionen Menschen, vom Unwetter betroffen, manche Ortschaften sind vollständig in den Fluten untergegangen. Über 700 Kilometer Straßen, 4.000 Kilometer Landwege und über 20 Brücken sind teilweise oder ganz zerstört, ein Großteil der Felder ist überflutet.

Zwar meldete das Gesundheitsministerium, daß die Seuchengefahr aufs erste gebannt sei. Die allgegenwärtige Feuchtigkeit und das faulige Wasser aber hat dennoch viele Tausende krank gemacht: Bindehautentzündungen, Hauterkrankungen, Durchfall und Keuchhusten grassieren, die ohnehin prekäre Gesundheitsversorgung ist streckenweise zusammengebrochen, Hunderttausende sind auf Lebensmittelpakete und Spenden angewiesen.

Zwar warnte Präsident Ernesto Zedillo bei seinem letzten von insgesamt fünf Kurzbesuchen im Notstandsgebiet vor einer „Politisierung“ der Hilfsleistungen. Dennoch berichten Anwohner den Reportern immer wieder von lokalen PRI-Gruppen, die Hilfsgüter nach Parteipräferenz verteilen.

Gnadenschuß für die Konfliktregion Chiapas

Aus Sicht des unabhängigen Forschungszentrums CIEPAC ist die Flutkatastrophe lediglich der „Gnadenschuß“ für die Region, die mit einem Schlag nun nicht mehr „nur“ Konflikt-, sondern zusätzlich auch noch Katastrophengebiet geworden sei. Denn auch in vielen vom Unwetter verschonten Regionen herrscht nach wie vor ein faktischer Ausnahmezustand. Nach Recherchen unabhängiger Journalisten vor Ort sind rund 30 Gemeinden im Hochland, dem Regenwald und dem Norden von Chiapas von Gewalt und Militarisierung betroffen. Danach leben an die 20.000 Menschen – nach offiziellen Angaben 8.000 – noch immer in Flüchtlingscamps, viele Zufahrtsstraßen werden weiterhin von Mitgliedern paramilitärischer Banden kontrolliert, und allein in diesem Jahr sind bereits 60 Menschen der politisch motivierten Gewalt zum Opfer gefallen.

Auch ein Ende des politischen Notstands in Chiapas ist nicht in Sicht. Seit dem letzten Treffen der Regierung mit Delegierten der Zapatistenguerilla EZLN sind über zwei Jahre vergangen. Eine Rüge des UNO-Unterausschusses wegen der Menschenrechtslage in Chiapas wurde von offizieller Seite als „absurd“ abgekanzelt. Und die jüngste Äußerung des Innenministers Francisco Labastida zum Thema war ebenso knapp wie kategorisch: Von nun an wolle man „keinerlei Zugeständnisse“ an die Zapatistas mehr machen.

Die Guerilla hat ihrerseits seit Mitte Juli ihre monatelange Funkstille beendet und sich erneut zu Wort gemeldet: zunächst mit einem bizarren Kurz-Kommuniqué, gezeichnet „von Speedy Gonzalez“, wenige Tage darauf mit einem umfangreichen Essay über „Masken und Schweigen“ sowie einem Aufruf zu einer Volksabstimmung über die Abkommen von San Andrés – dem ersten vor zweieinhalb Jahren unterzeichneten Friedensabkommen über indigene Rechte, deren Umsetzung bislang an der offiziellen Blockade gescheitert ist.

Dieser Vorschlag wurde nun von einer Gruppe prominenter Intellektueller, Akademiker und Künstler zum Anlaß genommen, die zapatistische Comandancia per offenem Brief zwecks „Gedankenaustausch“ um ein „baldmöglichstes Treffen“ zu bitten. Dieser Einladung, so antwortete die EZLN kurz darauf, wolle sie im Grunde „gerne“ nachkommen.

Ort und Zeitpunkt eines möglichen Treffens stehen allerdings noch nicht fest. Ob es dazu beitragen kann, das Vertrauen der EZLN in die Verhandlungsbereitschaft der Regierung wiederherzustellen, darf bezweifelt werden.