Verderbt uns nicht die Party

1969 hatten wir die erste Regierung ohne Konservative. Doch die Linken wollten damals nicht das Land gewinnen – und machten die Union wieder stark. Nun kann doch noch alles gut werden. Kann. Über Machtwechsel, Heilserwartungen und Enttäuschungsgifte  ■ Michael Rutschky

Der Wahlabend von 1969 ist mir als ein euphorisches Ereignis im Gedächtnis geblieben, ein richtiges Fest. Ich fürchte, wir tranken Lambrusco, ein antikes Studentengesöff, moussierend, das den ganz großen Kater hinterläßt.

Anfangs sah es schlecht aus. Die Demoskopen hatten der SPD vorausgesagt, sie würde stärkste Partei. Was aber die ersten Hochrechnungen bereits widerlegten. Die FDP kam so mickrig heraus, daß an die Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler unmöglich gedacht werden konnte.

Aber mit dem Alkohol in unseren Studentenhirnen nahm auch die Mehrheit von SPD und FDP langsam und stetig zu. Es muß bei fünf oder sechs Stimmen gewesen sein, daß Karl Schiller, SPD-Wirtschaftsminister in der Großen Koalition, vor der TV-Kamera ins Mikrophon sagte: Wir sollten es machen. Dröhnender Jubel.

Doch der enthielt ein Moment von tiefer Verzweiflung, was er zugleich verdeckte. Willy Brandt sollte Bundeskanzler werden, das wünschte unsereins schon seit 1961, als er zum ersten Mal kandidierte (und verlor). Konrad Adenauer hatte ihn als Emigranten und uneheliches Kind geschmäht, was seine Aura für unsereinen verstärkte. Auch 1965 siegte die CDU/CSU (ich durfte zum ersten Mal wählen und war also Mitverlierer), und 1966 ging Willy Brandt mit Kurt-Georg Kiesinger, ehemals Mitglied der NSDAP, die Große Koalition ein, was unsereins als schweren Verrat auffaßte.

Eine Enttäuschung, die zum stetigen Anwachsen der Protestbewegung, der außerparlamentarischen Opposition unmittelbar beitrug, kein Zweifel. Willy Brandt wurde durch die Zusammenarbeit mit Kiesinger irgendwie kontaminiert. Schon war Enttäuschungsgift entstanden – und so kommt man bei der Betrachtung dieser Geschichte auf die Unterscheidung von Licht und Finsternis.

Aber woher dann die in dem Jubel versteckte Verzweiflung am Wahlabend 1969, als Willy Brandt doch noch Kanzler werden konnte? Ein Moment von Verzweiflung, das in dem Jubel vom vorigen Sonntag, sagen wir es gleich, unsererseits völlig fehlte. Deutschland braucht und bekommt einen neuen Kanzler, gut so. 1998 fehlt das Existentialistische, das der Willy-Brandt- Wahl ihre Tiefenschärfe gab.

Und dann war die Geschichte auch noch schiefgegangen. Die Protestbewegung hatte sich als Heer des Lichts zu sammeln versucht, das den Mächten der Finsternis, wie sie immer noch die BRD beherrschten, ein für allemal Einhalt gebieten wollte. Aber so überzeugend und anschaulich die Unterscheidung Licht-Finsternis eine Lage schematisiert: Worin hätte denn präzise unser Sieg bestehen sollen? Es kamen ja nur noch schlechte Nachrichten. Der Warschauer Pakt machte dem Prager Frühling den Garaus, und gute sechs Wochen vor der Bundestagswahl, am 13. August 1969, flog ich mit einem Ticket, für das die Freunde zusammengelegt hatten, nach Frankfurt am Main. Um elf Uhr fand in der Kapelle des Hauptfriedhofs eine Trauerfeier statt, anschließend die Beerdigung: Theodor W. Adorno.

So sollte wenigstens die immerwährende CDU-Herrschaft beendet und Willy Brandt Bundeskanzler werden. Und wir könnten wieder werden, was wir ohnedies waren, Studenten, die endlich Examen machen und eine Karriere in Angriff nehmen sollten, und unser Heer des Lichts könnte sich insgesamt beim langen Marsch durch die Institutionen auflösen und in der Wirklichkeit ankommen. Einer Wirklichkeit, der politisch immerhin Willy Brandt als Bundeskanzler vorstand.

Mehr war nicht drin gewesen; die unspezifische Jugendunruhe der späten Sechziger hatte einen Machtwechsel hervorgebracht. Nur eine kleine Anstrengung, nur ein paar Schritte, und wir hätten begreifen können, daß das ein großer Erfolg war. Bekanntlich blieb diese Einsicht aus. Kleine Kader hörten nicht auf, die Geschichte in Heilsgeschehen verwandeln zu wollen, und die siebziger Jahre wurden, von Enttäuschungsgiften berauscht, ein Desaster.

Bekanntlich gehörten die Grünen in ihren Anfängen gleichfalls zu diesen eschatologischen, heilsersehnenden Kadern, vom Personal her ebenso wie von den Inhalten. Kommunistische Ideen – der Reichtum gehört allen unmittelbar – durchdrangen sich mit dem Phantasma des Paradiesgartens, das seine unglaubliche Wandlungsfähigkeit wieder einmal unter Beweis stellte. Die Zivilisation, die kapitalistische Industrie zerstöre die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten; diese Lebensgrundlagen wiederherzustellen sei die Aufgabe radikaler Politik. Daß Technik und Zivilisation, Industrie und Kapitalismus nichts weniger als den Planeten, das Seiende im Ganzen bedrohen, bildete für die frühen Grünen eine Art absolutes Wissen; die industrielle Zivilisation als Feind des Lebens selber zu erkennen (und den Paradiesgarten wiederherzustellen) war der zentrale Inhalt ihrer Politik. Jetzt ging es nur um dessen Umsetzung.

Was die Grünen seit ihren Anfängen von den anderen eschatologischen Kadern unterschied, den lächerlichen K-Gruppen ebenso wie der schaurig-erhabenen RAF, das war aber gar nichts Inhaltliches, sondern etwas Formales. Politische Gruppen, die Geschichte in Heilsgeschehen verwandeln wollen, pflegen einen formlosen Kollektivwillen zu beschwören, der sich endlich bilden und die Gesellschaft in Richtung des Heils bewegen möge, wofür Terror zur Verfügung steht, wenn Beschwörungen nichts bringen (Terror bringt auch nichts, aber solche Kader pflegen jede Niederlage in eine Vorausdeutung des Endsiegs umzuwandeln: Dies ist das Grundrezept für die Herstellung des berauschenden Enttäuschungsgifts). Eschatologen verachten Formales, Verfahren, Prozeduren, Apparate – und genau mit dieser Tradition haben die Grünen gebrochen.

Tobend und krachend haben sie sich als politische Partei im Rahmen des BRD- Parlamentarismus konstituiert und an einer Anschlußfähigkeit zum politischen System gearbeitet, die jetzt in der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene zu ihrem größten Erfolg kommt. Die Anfangsidee war sicherlich, daß man von einer errungenen parlamentarischen Position aus (etwas rein Formales) die Inhalte, das absolute Wissen um die ökologische Krise des Planeten leichter umsetzen könne.

Im Lichte dieser Ursprungsidee werden alle Maßnahmen der Regierung Schröder- Fischer als Verrat erscheinen, als Verunreinigung der Inhalte. Hier ist es wieder, das Enttäuschungsgift. Daß Politik – wie alle andere gesellschaftliche Kommunikation – Inhalte erzeugt, statt sie bloß aus dem Reich der Ideen in das der Wirklichkeit zu übersetzen, unvollkommen und verschmutzt, diese Einsicht scheint jedem Eschatologen des Teufels.

Unsereins fürchtet sich vor den Regressionen der Grünen auf ihre Ursprünge. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Hans-Christian Ströbele die Berliner rot-grüne Koalition unter dem Sozialdemokraten Walter Momper in die Luft gesprengt, als Momper die Polizei gegen militante Hausbesetzer ausschickte. Das mag gleichfalls bei weitem zu militant gewesen sein. Aber es standen auch eigentlich ganz andere Inhalte auf der Agenda, wir befanden uns mitten in der Wiedervereinigung, und es hätte politische Menschen eigentlich interessieren müssen, sie in Berlin mittels einer rot-grünen Koalition zu organisieren. „First things first“, wie die Amerikaner sagen.

Aber nein, Ströbele und seinesgleichen, vom Enttäuschungsgift der siebziger Jahre anhaltend berauscht, sahen die Hausbesetzer als einen versprengten Trupp der Armeen des Lichts, der in den okkupierten Häusern wenigstens ein paar Rabatten des Paradiesgartens anzulegen im Begriffe stand. Jede Mitverantwortung für die Mächte der Finsternis – in der Gestalt der Polizei, die die besetzten Häuser räumte – war abzustreifen.

Insofern habe ich es als gute Nachricht vernommen, daß Ströbele das grüne Direktmandat in Kreuzberg-Schöneberg versagt ward. Doch bleibt die Regression auf die Ursprünge eine allgemeine Lockung; gewisse muffige Kommentare, die der Wahlsieg in dieser Zeitung fand, bezeugen sie ja ebenso. Und auch die SPD hat ihre Ursprünge, die immer wieder mit Inhalten locken, welche die Regierung Schröder-Fischer doch eigentlich bloß umsetzen müßte...

Auch hier werden reichlich Enttäuschungsgifte entstehen, Räusche erzeugend. Während der Gewerkschaftsflügel den Wirtschaftsminister wegen gewisser Ungewöhnlichkeiten seiner Arbeitsmarktpolitik destabilisiert, müssen die Grünen dem neuen Staatsbürgerrecht die Zustimmung verweigern, weil es immer noch Hemmnisse der Einbürgerung enthält. Deutschland soll doch der Paradiesgarten werden, wo jeder Ausländer auf Anhieb Einheimischer ist, jeder Mann und jede Frau nichts als Mensch!

Ich kenne keine Wunderwaffe gegen die Lockungen der Heilserwartungen, kein verläßliches Antidot gegen ihre Enttäuschungsgifte. Daß man die Eschatologie ein für allemal hinter sich lassen könne, um in der klaren Nüchternheit des Realitätsprinzips zu leben, dies erscheint mir seinerseits als Heilsidee.

Meine Hoffnung richtet sich auf gewisse Kader, die während der Kohl-Ära, der Postmoderne, im Schatten des großen Kanzlerhügels entstanden sind. Anspruchsvoll gesagt, die System- und Differenztheoretiker, die De- und Konstruktivisten. Ihnen entspricht ein weit verbreitetes Lebensgefühl, das sich an der Unterscheidung von Ursprung und Nachgeschichte, Inhalt und Umsetzung, Utopie und Wirklichkeit erfreut und den Prozeß fördert, der aus diesen Unterscheidungen entsteht, einen Prozeß, der nicht abzusehen ist. Machen wir was draus.