Feier des Metrums

■ Der Finne Esa-Pekka Salonen bemühte sich, die Glocke zum Erbeben zu bringen

Der Schluß von Esa-Pekka Salonens „L.A. Variationen“ hat es in sich. Drei hauchzarte solistische Geigenlinien kraxeln in zunehmend fragilere Höhen hinan. Anstatt nun aber im Zustand stiller Verzückung zu enden, fipst eine Flöte mit einer absteigenden Sekunde töricht mittendrein: ein für die Moderne typischer Antischluß. Eigentlich ist dies ein Bekenntnis gegen Eindeutigkeit, im Grunde aber huldigt Salonens Komposition dem sinnlichen Gefühlsbad. Mit allen Errungenschaften der zeitgenössischen Musiksprache hochgerüstet, verweigert er sich doch allem Schwierigen und Strengen. Wie Gershwin. Nur brachialer.

Seit jeher ist dem jungenhaft wirkenden Finnen jene Konzertkultur zuwider, die sich auf die älteren Semester des gehobenen Bürgertums eingeschossen hat. Mit Konzerten von Hichcocks Leib- und Magenkomponist Bernard Herrmann versucht er drüben in L.A., junge Leute anzulocken. Und früher warb er schon mal in Popfanzines für die E-Musik. Das Konzertprogramm in der Glocke ist ein Bekenntnis zur klassischen Moderne, aber auch zur Sinnlichkeit. Eingängigeres als Debussys „La Mer“ und Strawinskys „Sacre du Printemps“ gibt es kaum. Und Salonens eigene Komposition mundet wie eine Fusionierung vonschaudererzeugendem Impressionismus und Strawinskyscher Motorik. Zwar zerrupft sie das Metrum noch heftiger als der russische Meister, die stampfende Wucht von Stammestänzen kultiviert aber auch sie. Die weitverbreitete Angst vor dem großen Sentiment kennt Salonen jedenfalls nicht.

Zum Beispiel der Einsatz der Harfe. Konnte man einen Monat zuvor im Konzert der Berliner Philharmoniker bei Wolfgang Rihms „In-Schrift“ einen widerborstigen, kratzigen Einsatz des glibbrigen Instruments erleben, so läßt Salonen die Harfe traditionsgemäß in butterweichen Arpeggien dahingleiten. Oft ist der Klangraum extremistisch: Da windet sich zum Beispiel eine einsame, klare Melodie in meeresartigen Tiefen; und ganz in der Höhe reiben sich die Streicher so clustrig eng aneinander, bis jeder Ton sich auflöst in allumfassender Entropie. Das Bauprinzip (je unterschiedliche Verzahnung zweier Hexachorde), von dem das Programmheft berichtet, ist akkustisch fast ebenso schwer wahrzunehmen wie das einer Zwölftonkomposition. Aber dafür ist alles unmittelbar sinnlich einleuchtend, Klänge von Orkangewalt ebenso wie die Geburt einer rührenden Melodie aus diffusem Gesäusel. Nach soviel Süffigkeit verblüfft Salonens strenge Debussyinterpretation. Nix Ätherik und Schwerelosigkeit, wenig Tempo rubato. Auch bei den zartesten Stellen marschiert die Musik noch eingeschnürt in den Zwängen des Metrums. Die Töne haben sich das Träumen und Schwelgen abgeschminkt.

Weniger verstörend ist dieser direkte, schnörkellose Zugriff natürlich bei Strawinsky. Aber auch hier wirkt er ungewohnt. Wo Strawinky das Metrum malträtiert durch querständige Akzente, feiert Salonen den Grundschlag, als würde er nachts zu viel Rockmusik hören. Nicht alles überzeugte. Trotzdem hinterließ Salonen durch seine bedingungslose Suche nach einer Urgewalt das Gefühl von Größe. bk