Ein normaler Schein kostet 50 Dollar

Die russische Finanzkrise wirkt sich auch auf die Universitäten des Landes verheerend aus. Studenten und Professoren haben kaum Zeit, sich um das Studium zu kümmern. Korruption ist an der Tagesordnung  ■ Aus Moskau Karsten Grawert

Sergej ist nervös. Er hockt am Schreibtisch seines düsteren Wohnheimzimmers, hin und wieder zerquetscht er eine Kakerlake mit seinem Wodkaglas. „Morgen entscheidet sich, ob ich mein Studium abbrechen muß“, sagt er, während das beständig ausfallende Deckenlicht wieder aufflackert, „Wenn mir mein Bruder kein Geld geben kann, war's das.“ 925 Dollar muß Sergej für das nächste Semester an der Moskauer Staatlichen Universität für Ökonomie, Statistik und Informatik bezahlen.

„Meine Mutter verdient als Krankenschwester 300 Rubel, das sind nach heutigem Kurs etwa 30 Mark. Mein Vater ist Offizier und bekommt schon seit Juni keinen Sold mehr.“ Und Sergejs Geschäfte stagnieren. In seinem Schrank stapelt sich zur Zeit eine Autoladung Elektrobohrer, die er von seinem Bruder geschenkt bekam. Der ist „Bisnismen“ und hat sich auf die Abwicklung der im Importgeschäft üblichen Bestechungsgelder an die Zollbeamten spezialisiert. Von der Provision konnte er gut leben, aber der Zusammenbruch des Importmarktes trifft ihn jetzt hart. Als neulich ein Geschäftspartner seine Zahlung schuldig blieb, behielt Sergejs Bruder kurzerhand dessen Auto samt Ladung. „Doch durch den Rubelverfall bekomme ich nur noch ein Drittel für meine Bohrer. Das reicht nicht“, erklärt Sergej resigniert.

Da er einen Hochschulwechsel hinter sich hat, gehört Sergej zu den 40 Prozent der 5.000 Studenten der Wirtschaftsuni, die ihr Studium in Valuta bezahlen müssen. Derlei Einkünfte sind heute die Existenzgrundlage der 70 Moskauer Universitäten. Seit 1995 zahlt der Staat sein Hochschulbudget nicht mehr aus, nur Gehälter und Stipendien wurden übernommen – bis zur Finanzkrise. „Unsere Professoren haben seit August kein Gehalt mehr bekommen“, klagt Alexander Choroschilow, der Vizedirektor des Instituts, „Insgesamt zahlen wir bis zu 80 Prozent unserer Gehälter selbst.“

Die Universität für Ökonomie, Statistik und Informatik, die als eine der drei besten Wirtschaftsunis des Landes gilt, ist zwar etwas heruntergekommen, aber gut mit Computern ausgestattet. Ökonomen sind im neuen Rußland gefragt. Und wer die strengen Aufnahmeprüfungen nicht besteht, kann sich für eine jährliche Gebühr von 2.000 Dollar einen Studienplatz kaufen.

In weniger zukunftsträchtigen Bereichen sieht es noch schlechter aus. An der einst hochangesehenen Moskauer Technischen Universität zum Beispiel zahlen weniger als zehn Prozent der Studenten für ihre Ausbildung. Wie viele andere Institute versinkt sie in Schulden. Da die Telefonrechnung nicht bezahlt wird, funktioniert in einigen Unis nur noch das Telefon des Direktors, teilweise wird aus Kostengründen nicht geheizt. Dem Zentralen Institut für Kartographie wurde jüngst die Energieversorgung abgedreht. Erbarmen zeigten die Elektrizitätswerke erst nach dem persönlichen Einschreiten des Bürgermeisters.

„Doch das größte Problem ist der wissenschaftliche Nachwuchs“, berichtet Igor Fjodorow, der Präsident der Moskauer Direktorenvereinigung. „Das Durchschnittsalter unserer Professoren liegt bei 61 Jahren. Für 400 Rubel Anfangsgehalt ist einfach kein Absolvent bereit, an der Uni zu arbeiten. Und die Perspektiven sind niederschmetternd: Schon in fünf bis sieben Jahren wird es keine Dozenten mehr geben.“

Die lächerlichen Dozentengehälter führen zudem zu einer wuchernden Korruption. „Ein normaler Schein kostet bei uns bis zu 50 Dollar, je nach Note.“ berichtet Sergejs Freund Kolja. „Man kann auch alle Semesterprüfungen auf einmal abhaken. Das macht dann 500 Dollar, plus Vermittlungsgebühr an einen Bekannten des Dekans. Eine Diplomarbeit kostet 300 Dollar“, rechnet Kolja vor, „aber dazu muß man noch etwa 200 in Blumen, Pralinen und Wodka für die Prüfungskommissionen anlegen.“ Ein fertiges Studium, das auch im Archiv nachprüfbar ist, kriegt man ab 2.500 Dollar, an der größten Moskauer Uni, der MGU muß man allerdings 5.000 hinblättern. Kolja kann solche Summen nicht aufbringen, aber zu einigen Prüfungen nimmt er eine Plastiktüte mit Spezereien mit. „Dann plaudert man bei einem Gläschen über die Schwierigkeiten des Dozentendaseins. Und einigt sich schließlich auf eine Note.“

Sergej knetet ungeduldig am Pappfilter seiner Zigarette. „Dieses ganze Herumgezocke steht mir bis hier“, ruft er aus „Ich will einfach nur ernsthaft studieren und dann einen vernünftigen Job bekommen. Auch wenn ich keinen fetten Jeep fahren werde, wie mein Bruder.“

Auch die Universitäten sind auf zum Teil dubiose Drittmittel angewiesen. In der Journalismusfakultät der MGU wurde ein Lesesaal komplett von Scientology ausgestattet, mit den gesammelten Werken L. Ron Hubbards. Bei den Physikern hat sich eine Maklerfirma eingemietet. Wladimir Dowgan, Besitzer eines Lebensmittelimperiums, kaufte sich in Sergejs Universität ein. In seinem privaten „College“ predigt er dort einen dubiosen Kapitalismus, der fast mönchische Abstinenz von seinen Jüngern verlangt.

Im Prinzip ist Vizedirektor Choroschilow einverstanden mit der schleichenden Zwangsprivatisierung seiner Hochschule. „Privatisierung heißt Wettbewerb, und Wettbewerb ist die Quelle des Fortschritts“, lautet seine Devise. Daß dabei das Recht auf kostenfreie Ausbildung ausgehebelt wird, nimmt er in Kauf.

Der pragmatische Choroschilow kann sogar der Finanzkrise etwas Positives für seine Universität abgewinnen: „Vor drei Jahren sind etwa hundert Spezialisten von uns zur Zentralbank, den Geschäftsbanken und anderen Einrichtungen abgewandert“, erläutert er, „Nach dem Bankencrash landen nun die Hälfte der Angestellten auf der Straße. Die ersten ehemaligen Dozenten haben bereits bei uns angeklopft.“