Die Farbenlehre von Tony Blair

Auf ihrem Jahresparteitag sieht New Labour zum ersten Mal alt aus. Das traditionelle Bermudadreieck aus Staat, Partei und Gewerkschaften, in dem noch jede Labour-Regierung versunken ist, ist wieder intakt  ■ Aus Blackpool Dominic Johnson

Labour-Delegierte, wie Hunde, erkennt man an ihren Halsbändern. Ursprünglich hatten alle Besucher des Labour-Parteitages im englischen Blackpool zwecks Umhängen ihres Passierausweises ein Halsband bekommen, auf dem in weißen Buchstaben vor himmelblauem Hintergrund „Somerfields“ steht. Hinten auf dem Ausweis, auf dem vorne „Labour 98“ steht, ist zu lesen: „Somerfields — landesweit im Dienst der Gemeinschaft. Somerfields ist Großbritanniens größte Einkaufskette... Besuchen Sie uns auf Stand 2.“

Aber nicht allen Labour-Parteitagsbesuchern gefällt es, als wandelnde Werbung herumzulaufen, bloß weil eine Supermarktkette ihren Parteitag mitfinanziert. Wer etwas auf seine Labour-Identität hält, trägt statt dessen ein rotes Halsband, gestiftet von einigen Gewerkschaften „zur Unterstützung der Textilarbeiter“. Im Laufe der zu Ende gehenden Parteitagswoche werden die weißen Halsbänder immer weniger, die roten immer mehr.

Rote Halsbänder allerdings schützen vor „Somerfields“ nicht. Denn die Grußbotschaft der Handelskette prangt ja immer noch hinten auf dem Ausweis, und genauso wie ein Butterbrot meistens mit der Butter nach unten auf den Boden fällt, baumeln die Ausweise meistens mit der Rückseite nach vorne, weswegen wohl andauernd irgendwelche Ordner Identitätskontrollen vornehmen, so daß die Leute die Dinger wieder richtig herum drehen dürfen. Es dauerte drei Tage, bevor die mit Labour verbündete „Co-Operative Society“ — eine alte Handelsgenossenschaft — eigene Plättchen entwickelte, die genau in den Plastikschieber der Ausweise passen und die böse kapitalistische Konkurrenz verdecken. Die Co-Op-Farbe: Lila.

Das wiederum ist nun fast Majestätsbeleidigung, denn in der Farbenhierarchie der ehemals sozialistischen Labour-Partei ist Lila für die Spitze vorbehalten. Lila waren die allerletzten Wahlplakate Tony Blairs vor seinem Triumph im Mai 1997, und Lila ist auch die Farbe der Wand hinter dem Premierminister, als er am Dienstag nachmittag seine große Rede hält. Abgesehen davon ist Lila die Farbe des Lichtes, das von oben herab sanft die Prominenz auf der Bühne beleuchtet, analog zur Funktion, die der Premierminister inzwischen in der Partei ausübt.

Im normalen Parteitagsalltag ist Lila ansonsten eine der unzähligen Farben, die die Wand hinter dem Rednerpult schmücken. Die Stellwand besteht aus vier mal vier von innen beleuchteten durchsichtigen Plastikquadraten, die unablässig die Farben wechseln. So wird ein Quadrat innerhalb einer halben Minute beispielsweise allmählich gelb, grau, orange, lila und blau, und dieses einschläfernde sechzehnfache andauernde Bauklotz- flimmern hört immer erst dann auf, wenn ein Minister auf die Bühne tritt und eine Rede hält. Dann nämlich wird visuell das Kommando „Wichtig! Zuhören!“ gegeben, und alle Quadrate nehmen dieselbe Farbe an: bei Tony Blair, wie gesagt, Lila; bei freischwebenden Figuren wie Peter Mandelson ein edles Türkis; und bei Schwergewichtlern wie Vizepremier John Prescott und Finanzminister Gordon Brown ein schönes knalliges Rot.

Labours Farbenlehre hat einen Zweck. Dieser Parteitag ist der erste richtig normale Parteitag von Labour als Regierungspartei seit zwanzig Jahren — der von 1997 war ja im Schatten des Wahlsieges eher eine Feierstunde. Er ist ein richtig schön altmodischer Labour-Parteitag, rebellisch und aufsässig, mitunter zornesrot, und die Führung wußte das natürlich vorher und hat versucht, das zu neutralisieren. Sie schüttet so viele Farben über die Bühne aus, daß kein individueller Standpunkt daneben mehr bestehen kann. Es gibt kaum noch Resolutionen, über die man abstimmen kann, sondern nur noch haufenweise „Berichte des Vorstands“ und „Dokumente des Politikforums“, die in einem endlosen „Konsultationsprozeß“ zwischen Basis und Führung hin- und hergeschoben werden und hier in Blackpool nur als Grundlage für weitere Diskussionen abgesegnet werden. Man kann nicht mehr wie früher mit einem strategisch eingebrachten Antrag die gesamte Regierungspolitik über den Haufen schmeißen.

Wenn es doch jemand versucht, ist die Führung gnadenlos. Bei den wenigen zugelassenen Debatten über „aktuelle Themen“, wo wie früher Anträge von der Basis eingebracht und abgestimmt werden, dominieren Anträge zur Unterstützung der Regierungspolitik. Wenn es einen Gegenantrag gibt, wie zum Beispiel für die Wiederverstaatlichung der Eisenbahnen, wird dieser zusammen mit mehreren regierungstreuen Anträgen debattiert und seltsamerweise kommen nur regierungstreue Redner dran. Dann schreitet die Partei zur Abstimmung, einige hundert Hände heben sich für die Verstaatlichung und einige hundert mehr dagegen, und die Konferenzleiterin behauptet, die Ablehnung sei „fast einstimmig“.

Muß das sein? Die Labour-Führung macht dieses Jahr einen merkwürdig verunsicherten Eindruck. Sei es, daß der zu Parteitagsbeginn verkündete Sieg der Linken bei den Wahlen der sechs von der Parteibasis bestimmten Vorstandsmitglieder ein Schock war — aber das ist doch kein Grund für Tony Blair, sich in seiner großen Rede so zu gebärden, als stünde er kurz vor dem Sturz. Er fletscht die Zähne und nennt 1999 ein „Jahr der Herausforderungen“; er sagt immer wieder „No backing-down“ — kein Kuschen — und verteidigt seine Politik mit den Worten: „Besser unbeliebt als falsch.“ Aber er ist ja gar nicht unbeliebt. Er und seine Regierung liegen immer noch in den Umfragen weit über 50 Prozent. Warum diese Verbissenheit? Warum hat es Blair nötig, vor seiner Rede einen Chor aus Schulmädchen auftreten zu lassen, die in lila Hemden Kirchenlieder singen mit Versen wie „Wir marschieren zum Lichte des Herrn; er spricht in Harmonien“?

Die Labour-Linke wittert, daß etwas in der Luft liegt. Zum alljährlichen Treffen der linken Wochenzeitung Tribune, das traditionell als eine Art atmosphärischer Seismograph gilt, kommen dieses Jahr weit über 500 Leute, so viele wie seit vielen Jahren nicht. Hier im gut gefüllten großen Opernsaal der Winter Gardens betont Mark Seddon, unter den neuen linken Vorstandsmitgliedern nach der Stimmenzahl an erster Stelle, „diese wichtige Woche für unsere Bewegung“. Hier beschwört der linke Parlamentsabgeordnete Alan Simpson „die aufregendste Zeit meines Lebens“. Hier droht grinsend der mittlerweile 73jährige Altlinke Tony Benn: „Also ich habe schon vor, den Großteil des kommenden Jahrhunderts mitzuerleben.“ Sie freuen sich alle diebisch, ganz anders als Blair und Konsorten. Dies ist der Parteitag, auf dem New Labour plötzlich alt aussieht.

Wenn es lediglich um links gegen rechts ginge, um Old gegen New, wäre es für die Führung ein Heimspiel. Die Linke an sich ist schwach. Von der ersten Vorstandswahl abgesehen, klappt für sie auf dem Parteitag nichts. Jede Abstimmung geht verloren. Die Parlamentsfraktion beschert der Führung bei der Wahl ihrer drei Vorstandsvertreter einen so glatten Durchmarsch, daß sogar einige Abgeordnete bei der Verkündung der Ergebnisse ungläubig tuscheln. Die Parteitagsregie schafft es, den linken Flügel auszumanövrieren, vor allem verbal. Premierminister Blair und Finanzminister Brown erinnern immer wieder an die jüngsten Haushaltsentscheidungen, die über die nächsten drei Jahre 40 Milliarden Pfund (115 Milliarden Mark) extra für Bildungs- und Gesundheitswesen bedeuten — eine Revolution, verglichen mit dem früher gepredigten Sparkurs. Es ist eine eindeutige Linkswende bei der Regierung zu spüren, und dafür fordert sie energisch Loyalität.

Andererseits ist die New-Labour-Führung damit auch verwundbar geworden. Wenn sie die Ziele der Linken verbal aufnimmt — wozu dann die Zentralisierung der Macht um Blairs Klüngel? Die Labour-Partei in Wales beispielsweise befindet sich im offenen Aufruhr, seit die Parteizentrale sich bei der Kandidatenaufstellung für die Europawahlen über sie hinweggesetzt hat. Die Londoner Delegierten erfahren aus der Presse, daß die Zentrale über sie eine Liste mit persönlichen Einschätzungen zusammengestellt hat — „verläßlich“, „naiv“, „Trotzkist“. So etwas stiftet Unmut. „Es geht nicht um politische Differenzen“, erklärt Stella Matthews, Parteichefin in Nord-Wales. „Es geht darum, uns Kandidaten aus anderen Landesteilen aufzudrücken, ohne es uns zu sagen.“ Eine Europaabgeordnete kommentiert eine Debatte um eine Satzungsänderung: „Ich hasse es, wenn ich eigentlich überzeugt bin, aber mir lauter Lügen anhören muß.“

Der Wales-Staatssekretär Peter Hain gibt zu: „Es gibt eine Unruhe an der Basis der Partei, und es ist wichtig, daß wir in der Regierung das verstehen.“ Die Regierung versteht zumindest eines: Sie braucht einen Verbündeten gegen ihre Mitglieder. Damit rücken die Gewerkschaften, die immer noch 50 Prozent der Stimmen bei innerparteilichen Entscheidungen kontrollieren, in eine immer zentralere Rolle. Wenn sie Blair unterstützen, haben sie New Labour gerettet. Gehen sie mit der Linken, ist Blair isoliert.

Die Gewerkschaftsführer genießen ihr Rampenlicht. Ihre roten Halsbänder sind ein ständiges Barometer ihrer Macht, und es steigt. Sie bekommen meistens den stärksten Applaus von allen Rednern, zum Beispiel, wenn sie eine Leitzinssenkung zur Ankurbelung der Konjunktur fordern, oder Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst. Daraus erklären sich die oft scharfen Töne von Regierungsmitgliedern gegen Industriemanager und gegen weiteres Sparen. Daraus erklärt sich auch, wieso die Linke die Kritik an Blairs Wirtschaftspolitik zum Schwerpunkt ihrer Arbeit macht. Das alte Bermudadreieck Staat/Partei/Gewerkschaften, in dem noch jede Labour-Regierung der britischen Geschichte versunken ist, ist wieder intakt.

Was das bedeutet, versteht keiner besser als Tony Benn, der erfahrenste noch aktive Linke bei Labour. „Die Labour-Partei hat sich überhaupt nicht verändert!“ freut er sich auf der Tribune-Versammlung, wenige Stunden nachdem Tony Blair in seiner Rede erklärt hat: „Dies ist unsere Herausforderung: Das Land genauso resolut zu verändern, wie wir die Labour-Partei verändert haben.“ Nach einer langen Parteitagswoche verrät das bunte Flimmern der Bauklötzchen hinter dem Rednerpult von Blackpool vor allem Orientierungslosigkeit.