Im Zentrum Berlins fängt heute mit der Eröffnung des Potsdamer Platzes die Wirklichkeit an. Die „neue Mitte“ der Hauptstadt ist in nur fünf Jahren aus dem Boden gestampft worden. Was Daimler-City an Reife fehlt, wird von Wuchtigkeit wettgemacht. Aus Berlin Uwe Rada

Das Herz der Stadt ist unverschämt jung

Staunend blickt Ray Pask auf die Silhouette des Potsdamer Platzes. Wie eine Trutzburg liegt er da, mit drei Hochhäusern, engen Straßenschluchten und wuchtiger Baumasse. Ray Pask kramt die Postkarten, die er in der benachbarten Infobox gekauft hat, aus der Fototasche. Dann vergleicht der Australier die Postkarten mit der Wirklichkeit. „Der Potsdamer Platz ist etwas offener“, sagt er, „weniger klaustrophobisch.“ Auf den Postkarten ist ein Bühnenaufbau aus den zwanziger Jahren zu sehen: „Fritz Langs Metropolis“, sagt Ray Pask. „Stadt als Kulisse, das hat in Berlin Tradition.“

Den Berlinern ist es freilich egal, ob sie durch die Kulissen eines Bühnebildes oder einer Stein und Glas gewordenen Wirklichkeit pilgern. Seit einigen Wochen hat der Potsdamer Platz der Infobox den Rang als Berlins Touristenattraktion Nummer eins abgelaufen. Tausende strömen von morgens bis spätabends die Leipziger und Neue Potsdamer Straße entlang, werfen einen Blick hinter die Absperrgitter oder kommentieren das Wachstum der in Berlin so seltenen und daher um so mehr bestaunten Hochhäuser.

Kein Zweifel: Die Zeit des Baustellentourismus zu Europas größtem Sandkasten neigt sich dem Ende zu. Nicht mehr das Provisorium lockt die Berliner und Touristen, sondern die Neugier auf das fertige Produkt. Mit der heutigen Eröffnung des Daimler-Stadtteils, pünktlich zum Tag der deutschen Einheit, beginnt die Wirklichkeit der Investorenstadt, fängt auf dem ehemaligen Todesstreifen Berlins künstliches Herz zu schlagen an, wie die Kommentatoren im Gleichklang schreiben. Der Potsdamer Platz und mit ihm Berlin am Puls der Zeit – nur welcher?

Rudolf Anker kommt aus Berlin-Pankow. Freiwillig ist er nicht gekommen. Aber seine Frau ließ nicht locker. Also ist Rudolf Anker vorgegangen, sondieren. Am Wochenende, dem Eröffnungswochenende, wird er ihr dann zeigen, was er gesehen hat. Und ihr sagen, daß man sich daran gewöhnen müsse.

„Heute ist eben alles etwas moderner“, meint er. Nur daß der Potsdamer Platz „sehr gedrängt aufeinander gebaut ist, und drumherum ist nichts, absolut nichts“. Das macht ihm schon Probleme. Herzklopfen bekommt er deshalb aber nicht. Eher würde Rudolf Anker wieder umkehren. Nach Hause, in Richtung Pankow, oder aber, wenn es schon modern sein muß, in Richtung Friedrichstraße. „Die ist viel gemütlicher“, weiß er, „nicht so hektisch.“ Das neue Herz der Stadt ist nicht nur künstlich, es ist auch jung. Unverschämt jung.

Im Hochhaus der Daimler- Tochter debis gibt Christian Maaß den Presseleuten vor der Eröffnung schon einmal einen Einblick in die neue Mitte der Stadt. Es ist ein Einblick in die deutschen Sekundärtugenden. Pünktlich und akkurat legen die Bauarbeiter letzte Hand an die Fassaden. Pünktlich und akkurat transportiert der Baggerfahrer die Altberliner Pflastersteine zur nächsten Straßenecke, wo ebenso pünktliche und akkurate Straßenbauarbeiter auf ihren Einsatz warten.

Logistik heißt das Zauberwort von Christian Maaß. Immerhin konkurrieren die 120 Einzelhändler, die in der Shopping-Mall „Potsdamer Platz Arkaden“ ihre Inneneinrichtung rechtzeitig zur Eröffnung fertigstellen wollen, mit den Bauarbeitern um die wenigen Liefer- und Lagerplätze. Täglich brüten die Logistiker deshalb über den Ablaufplänen, weisen den einzelnen Firmen „Fenster“ zu, kontrollieren das Chaos, das die derzeit 4.500 Bauarbeiter auf Deutschlands noch zwei Tage lang größter Baustelle anrichten. Das neue Herz der Stadt ist nicht nur jung, es schlägt auch schnell. So schnell, daß die Geschichte des Ortes von der Gegenwart schon geschluckt wurde, noch bevor diese so richtig begonnen hat.

Renzo Piano war sich dessen bewußt. „Es dauert 500 Jahre, bis man eine Stadt gebaut hat“, hat der Masterplaner der Daimler-City einmal gesagt. „Und 50 Jahre, bis ein Stadtteil entsteht.“ Berlins „neue Mitte“ ist dagegen in nur fünf Jahren aus dem Boden gestampft worden. Für den Architekten Piano ist das kein Problem, für den Städtebauer Piano schon. Stadt wird erst dann Stadt, wenn sie gealtert ist, weiß er, wenn sie Patina angesetzt hat, von den Bewohnern genutzt wird, Höhen durchlebt hat und auch Tiefen.

Dieses Dilemma konnte Piano nicht lösen, es ließ sich nur verkleiden. Vorzugsweise mit italienischem Terrakotta. Der wird mit der Zeit, anders als etwa Beton, nicht schäbig, sondern reifer.

Noch wird die fehlende Reife in Daimler-City mit Größe wettgemacht. Auch ohne das benachbarte Sony-Gelände, ohne die geplanten Bauvorhaben von Hertie und Roland Ernst ist die 68 Hektar große Stadt des Renzo Piano überraschend geräumig. Außer dem eigentlichen Potsdamer Platz am Nordostrand der Daimler-City bilden zwei weitere Plätze, darunter eine „Piazza“, und zehn Straßen das städtebauliche Gerüst des neuen Quartiers. Ein Gerüst, das der Berliner Senat Piano vorgegeben hat, ohne den Masterplaner freilich daran hindern zu können, die Vorgaben immer wieder, wie es debis-Mitarbeiter Maaß nennt, „ironisch zu durchbrechen“. Wie um diese Ironie zu veranschaulichen, führt Maaß seine Besucher ins Innere des Wohnblocks B5. Vom Trubel der Bauarbeiten, von den Besucherströmen auf der Neuen und dem Gabelstaplerruckeln auf der Alten Potsdamer Straße ist hier nichts zu spüren. Nur ein paar Gartenbauarbeiterinnen sind damit beschäftigt, die letzten Silberahornbäume in den Hof zu setzen. „Ein italienischer Hof“, wie Maaß betont, fast um ein bißchen zu vertuschen, wie reibungslos sich am Potsdamer Platz italienische Leichtigkeit mit den deutschen Sekundärtugenden verbinden läßt.

Italienische Terrakotta, schwäbischer Bauherr, preußische Gestaltungsvorgaben – soviel europäische Stadt war noch nie auf einem Haufen, und trotzdem sind die professionellen Kritiker enttäuscht. Eine Insel ohne städtische Anbindung sei der Potsdamer Platz, eine Stadt in der Stadt, umgeben von Brachen und künstlichen Wasserflächen. Als wäre dies nicht schon seit Jahren absehbar gewesen, erheben sie ihre Zeigefinger und warnen, ein letztes Mal.

Janina, Simone und Susanne sind da schon weiter. Wie die meisten Besucher beurteilen sie den Potsdamer Platz nicht nach ihren Erwartungen, sondern nehmen ihn, wie er ist. „Wenigstens nicht langweilig“, lautet ihr Urteil. Langweilig, das ist für die zwölfjährigen Schülerinnen ihr Zuhause in Berlins Trabentenstadt Marzahn, „wo es nur Hochhäuser und Kaufhallen gibt“. Janina findet den Potsdamer Platz sogar „cool, echt cool“.

Vor allem das Straßengeviert rund um das CinemaxX, mit 19 Sälen Deutschlands größtes Multiplexkino, läßt die Besucher des Potsdamer Platzes seit geraumer Zeit ahnen, was sie ab diesem 2. Oktober erwarten wird. Katja Baum weiß es schon jetzt. „Die engen Straßenschluchten und die hohen Häuser“, sagt sie, „vermitteln fast ein bißchen Downtown-Gefühl.“

Dann erzählt sie von ihrer Begegnung mit einem schwarzen Mitarbeiter im Kino, der ihr mit einem „Hier“ den Weg gewiesen hat. „Ich habe ,here‘ verstanden“, lacht sie, „und ihm mit ,thank you‘ gedankt.“ Am Potsdamer Platz könne man zum ersten Mal in Berlin New York spielen. Unter einer Bedingung: „Du mußt dich darauf einlassen, mußt eintauchen wie in einen Film. Schaffst du das nicht, glaubst du dich im falschen Film, findest alles billig und schäbig.“

Ihr Begleiter kann den scharfen Kanten, die die Häuser vom Abendhimmel trennen, nichts abgewinnen, findet sie „schroff und abweisend“. Mit dem herkömmlichen Bild von Stadt, weiß er, hat das wenig zu tun, um so mehr mit einer Simulation. Die Investorenstadt als Kopie der Wirklichkeit, aus der schließlich die Wirklichkeit der Kopie wird – ist das der Preis eines künstlichen Herzens?