Analyse
: Das Ende einer Ära

■ Malaysias Premier hat sich beim Sturz seines Vizes Anwar verkalkuliert

Malaysias Premier Mahathir Mohamad hat sich verrechnet. Als er den Vizepremier und designierten Nachfolger Anwar Ibrahim wegen „unnatürlicher sexueller Akte“ entließ und ins Gefängnis warf, war der Regierungschef überzeugt, daß sich die Aufregung schnell legen würde. Statt dessen hat der Sturz Malaysia erschüttert.

„Die Leute haben erkannt, daß unsere Justiz nur Fassade ist“, sagt der Oppositionspolitiker Lim Kit Siang. Zu sehen, wie der ehemalige zweite Mann der Regierung mit blaugeschlagenen Augen in den Gerichtssaal geführt wird, wo er sich gegen wüste Beschuldigungen homosexueller Beziehungen und Korruption verteidigen muß, „macht selbst normalerweise unpolitische Menschen wütend“, meint ein Mitarbeiter eines regierungsnahen Forschungsinstituts.

Viele Malaysier sprechen von einem neuen Bürgerbewußtsein. So meldeten sich über 100 Anwälte, die Anwar und seine verhafteten 17 Freunde ohne Honorar verteidigen wollten. Politische Parteien und Gruppen, die sich sonst um nichts in der Welt zusammenfinden würden, fordern plötzlich gemeinsam „Gerechtigkeit“. Ironischerweise haben es viele Oppositionelle Mahathir selbst zu verdanken, daß sie nicht nur auf die Propaganda in den kontrollierten Zeitungen angewiesen sind. Der Regierungschef sorgte in den letzten Jahren dafür, daß sich moderne Informationstechnologien und das Internet in Malaysia verbreiteten. Auf Dutzenden von Websites kann jeder über die neuesten Aktivitäten der Opposition lesen. Anwar war in der Bevölkerung weitaus populärer, als Mahathir und seine Berater wahrhaben wollten. Er verkörperte eine demokratischere Zukunft. Er pflegte gute Kontakte sowohl zur Wirtschaft als auch zu sozialen Organisationen und muslimischen Gruppen.

Der 51jährige hätte die Regierungskoalition „Barisan National“, die seit der Unabhängigkeit 1957 am Ruder ist und derzeit rund 80 Prozent der Sitze im Parlament stellt, von innen reformiert. Er versprach besonderes jenen Malaysiern, die nichts so sehr fürchten wie politische Unruhen, einen reibungslosen Machtwechsel. Auch wenn der Zorn über das Vorgehen Mahathirs wächst: Eine breite Volksbewegung, die den Regierungschef stürzen könnte, ist nicht in Sicht. Malaysia ist nicht Indonesien, wo die Unzufriedenheit mit der Arroganz und Korruption Suhartos explodierte, als das Land in tiefe wirtschaftliche Not geriet. Im kleineren und wohlhabenderen Malaysia beginnt die Krise erst jetzt zu wirken. Von Elend ist wenig zu sehen. Vor allem ausländische Arbeiter müssen die Folgen tragen. Möglicherweise kann Mahathir sich noch ein paar Jahre halten, doch mit dem Sturz Anwars hat er das Ende seiner eigenen Ära eingeleitet. Jutta Lietsch