Rot-Grün, Terrakotta etc.
: Fassaden der neuen Mitte

■ Der Potsdamer Platz ist das erste Wahrzeichen des Politikwechsels. Ein Spaziergang zu Renzo Pianos Reverenz an die Toskana-Fraktion

Immer um großen Sinnsprech bemüht, fand Roman Herzog zur Eröffnung der Daimler-debis- Stadt die Worte über eine Architektur, die nur zu einem Drittel aus Bauwerken und zu zwei Dritteln aus Menschen bestehe. Am Abend auf dem Weg zu Gianna Nannini und Laser-Show fiel das Verhältnis noch deutlicher zugunsten der Menschen aus. Gute Zeiten für den Absatz einer Obdachlosenzeitung. Man möge ihm doch bitte die letzten zwei Exemplare abkaufen, beschwor ein Mitarbeiter des Blatts mit einstudiertem Pathos die Mitreisenden. Als die S-Bahn die Menschen am Potsdamer Platz entließ, war das Sortiment wieder aufgefüllt und das Geschäft begann in entgegengesetzter Fahrtrichtung von vorn.

Den Ausgestiegenen erging es wie Curt Bois, der in „Der Himmel über Berlin“ verzweifelt den Potsdamer Platz sucht. „Hier muß er doch gewesen sein.“ Die Hinweisschilder verweisen auf die Info-Box, die sich als Erklärerin der Bauanstrengungen noch immer großer Anziehungskraft erfreut, als seien die Baugruben schon der Höhepunkt der ersehnten Urbanität. Aber diesmal will alles in die andere Richtung. Vormittags hat der genuesische Baumeister Renzo Piano sein Terrakotta-Ensemble enthüllt.

Das ist sie doch, die neue Mitte. Nicht bloß die gebaute, sondern auch jene, die per Stimmzettel eben die gesamte Republik verändert hat. Die Toskana-Fraktion hat das Landleben satt und kehrt zurück in die Metropole. Nichts drückt das neue Regierungsgefühl besser aus als die tönerne Mediterranität der Fassaden Pianos. Terrakotta, das ist Gestaltungswille und Stilempfinden, das modisches Geraune demonstrativ zurückweist. Geradeso denkt man sich Zukunft von der Mitte des Lebens aus. Ein Rest rotweinseliger Gemütlichkeit soll sein. Pianos von Wasserlandschaften umgebene Stadt in der Stadt ist das erste Wahrzeichen der Hauptstadt unter rot-grüner Koalition. Als die Laser ihre Linien in den Himmel malten, schienen mit einem Mal die Schrecken modernen Städtebaus gebannt.

Unterirdisch drängelten sich derweil Menschenmengen durch die Luxus simulierenden Shopping-Malls, die doch nur die Tristesse internationaler Warenketten anzupreisen haben. Footlocker, Esprit und ein bißchen Softwarezauber von Vobis. Nichts, was nicht auch die Schloßstraße in Steglitz anzubieten hat. Achtlos strömten denn auch die Passanten an der Auslegeware vorüber und suchten andächtig die kathedralenartigen Straßenschluchten der neuen Mitte. Noch überwiegt Frömmigkeit bei soviel neuem Stadtgefühl.

In dem Maße, in dem die Info- Box durch weitere Fertigstellungen zur Orientierung überflüssig wird, schwinden die Illusionen über die Planbarkeit einer neuen Mitte. Das gilt für den Potsdamer Platz, wo das Leben erst pulsiert, wenn sich neben McDonald's der asiatische Imbiß durchgesetzt hat. Das gilt auch für die soziale Mitte, deren Akteure zur pflegeleichteren Kinderaufzucht zuletzt in die Vorstädte auswichen. Die neue Mitte verlangt Definitionsarbeit. Wer hier dabeisein will, den erwarten die Mühen kultureller Differenz und ein bißchen Lust auf Berliner Ökonomie. Harry Nutt