"Gefeit vor Utopien"

■ Thomas Brussig und Ingo Schulze, Erfolgsautoren der Nach-Wende-Generation, im Gespräch über die DDR und den Osten, über Literatur und die Schwierigkeit, den Westen zu verstehen

Als Thomas Brussigs „Helden wie wir“ 1995 erschien, feierte die Kritik das Buch als lang ersehnten Wenderoman. Daß er in Gestalt einer Groteske unter die Deutschen kam, hätte man allerdings nicht erwartet, und doch zeigt sich in der komischen Geschichte vom sexuell und auch sonst ziemlich verkorksten Mauerumwerfer Klaus Uhltzscht, wie sich der großen Geschichte auf unpathetische Weise beikommen läßt. Auch Ingo Schulze bevorzugt den nicht so hohen Tonfall und die kleine Form. Nach den kurzen Erzählungen „33 Augenblicke des Glücks“ veröffentlichte er in diesem Jahr „Simple Storys“ – Geschichten aus dem Nach-Wende-Alltag – und gilt seither als der Shooting-Star des Ostens. Thomas Brussig (Jahrgang 1965) und Ingo Schulze (Jahrgang 1962) verbindet nicht nur ihr Erfolg. Doch sie kannten sich bisher nicht. Für das taz-Gespräch trafen sie sich zum ersten Mal.

taz: Gibt es einen Moment, in dem Sie Ihren Erfolg am liebsten rückgängig gemacht hätten?

Thomas Brussig: Nein, allein schon wegen der materiellen Unabhängigkeit und der persönlichen Bestätigung. Der Erfolg ist natürlich an Komplikationen gebunden, mit denen ich nicht gerechnet habe. Ich bin zum Schreiben gekommen, weil ich nicht gut reden konnte. Plötzlich sollte ich bei Interviews schlagfertig sein. Ich bin aus Neugier in jede Talkshow gegangen und habe alles mitgemacht, was aufregend war. Im Mittelpunkt zu stehen und niemanden zu haben, mit dem man diese Eindrücke teilen kann, ist anstrengend.

Ingo Schulze: Man ist so nach außen orientiert. Mich nervt, wenn Leute mit mir ein Interview führen wollen, aber das Buch nicht gelesen haben. Wenn die irgendwelche ominösen Fragen über meine DDR-Familie stellen. Ich habe alle Talk- und Schmidt-Shows, in denen es nicht um Literatur ging, abgesagt. Dem setze ich mich nicht aus.

„Helden wie wir“ ist nun drei Jahre her. Würden Sie nicht gerne wieder etwas schreiben?

Brussig: Ich habe ja dauernd geschrieben und gearbeitet, aber für den Film: ein Drehbuch zu „Helden wie wir“, den Sonnenalleestoff für Leander Hausmann und „Heimat III“ mit Edgar Reitz. Das sind alles außergewöhnliche Projekte, besonders die Zusammenarbeit mit Edgar Reitz. Wir haben übrigens auch sehr aufmerksam die „Simple Storys“ gelesen, denn „Heimat III“ spielt im selben Zeitraum, nämlich von 1989 bis zur Jahrtausendwende.

Sitzt Ihnen der Erfolg zu sehr im Nacken, oder warum schreiben Sie nichts Literarisches mehr?

Brussig: Ich kann gut damit leben, daß sich dieser Erfolg nicht wiederholen wird. Ich bin froh, daß ich ihn einmal hatte, viele haben ihn nie. Viele Autoren, die mir etwas bedeuten, haben mit 30 ein Ding rausgeknallt, das sie mit einem Schlag bekannt gemacht hat, aber an dem sie immer wieder gemessen wurden: man denke nur an Salinger mit „Der Fänger im Roggen“. Die haben so einen Erfolg nie wieder erreicht, sich aber dennoch literarisch weiterentwickelt.

Ingo Schulze, Sie arbeiten zur Zeit an einer Novelle, die in Dresden spielt. Titel: „Titus Türmer“.

Schulze: Ich hatte das Glück oder Pech, daß der Erfolg bei meinem ersten Buch langsam aufhörte. Ich merkte, daß Bücher ein Saisongeschäft sind. Spätestens nach Weihnachten waren die „33 Augenblicke“ aus den Läden draußen. Dann konnte ich auch leichter „Simple Storys“ anfangen, vor allem, weil ich ein Stipendium für New York bekam. Dieser Aufenthalt hat mich ein wenig gerettet, ich kam mit dem Grundstock der „Storys“ zurück und war nicht zu angespannt. Ich arbeite zur Zeit zwar an „Titus Türmer“, sitze aber auch zusammen mit dem Dresdner Theaterregisseur Carsten Ludwig an einem Drehbuch zu „Simple Storys“. Drehbuchschreiben ist aber für mich letztlich unbefriedigend. Wenn ich das richtig verstanden habe, schreibst du mit Reitz an einem Drehbuch, das gar nicht im Osten, sondern im Hunsrück spielt. Ich hätte ganz große Schwierigkeiten, über einen Landstrich zu schreiben, den ich gar nicht kenne.

Könnten Sie nur Geschichten schreiben, die an Orten Ihrer Sozialisation spielen?

Schulze: Ich habe so ein paar Punkte im Leben, über die ich schreiben möchte. Das versuche ich zur Zeit mit „Titus Türmer“, einer Pubertätsgeschichte, die in Dresden im Jahr 1977 spielt. Dann wären meine Armeezeit und das Jahr 1989 noch solche Stationen. Ich kann zwar über New York schreiben, aber eher darüber, wie sich Ostdeutsche in New York verhalten. Es wird vielleicht einen Zeitpunkt geben, an dem das alles keine Rolle mehr spielt, aber momentan fühle ich mich da sehr beschränkt. Ich bin nun mal ein ostdeutscher Schriftsteller in dem Sinne, daß meine Kontrastmasse immer dieser Osten ist. Ich merke langsam, daß ich viel mehr Ostler bin, als ich glaubte. Ich hätte Schwierigkeiten, einen Westdeutschen ordentlich zu beschreiben.

Ihre Bücher verkaufen sich im Westen sehr gut. Werden Sie demnächst als ostdeutsche Aufklärungsliteraten gehandelt, die den Wessis zeigen, wie der Osten so ist?

Schulze: Literatur ist etwas sehr Komplexes, und wenn sie diesen aufklärerischen Aspekt hat, ist das gut. Ich werde aber bei vier von fünf Lesungen gefragt, was denn das typisch Ostdeutsche sei. Da komme ich immer ins Grübeln. Manchmal halte ich den Erfolg sogar für ein Mißverständnis. Viele hielten auch die „33 Augenblicke“ für etwas Exotisches, da bin ich durch die Decke gegangen. Ich denke, in „Simple Storys“ habe ich Situationen beschrieben, die überall in der westlichen Welt so passieren können. Der Unterschied ist, ob Menschen von einer Woche auf die andere mit dem Westen konfrontiert wurden oder ob sie darin groß geworden sind.

Brussig: Das Problem für uns beide ist ja ungefähr ähnlich. Wir sind aus einer Generation, wir sind aus der DDR und die gibt es nicht mehr. Wir sehen jetzt, daß wir eine gesamtdeutsche oder gar internationale Leserschaft haben. Die Rolle des DDR-Schriftstellers, der auch noch eine politische Sprachrohrfunktion hatte und das sagen mußte, was nicht in der Zeitung steht, diese Rolle werden wir nicht ausfüllen, sondern uns einfach mehr um das Literarische kümmern. Es war auch eine Herausforderung, am Ende der DDR unbekannt zu sein. Für so gängige DDR-Schriftsteller wie Helga Königsdorf, Erik Neutsch oder Volker Braun, die diesen Stallgeruch hatten und ihn nur schwer loswerden, war es viel schwieriger, sich weiterzuentwickeln.

Schulze: Ich frage mich oft, wer solche Bilder entwirft. Ich selbst würde nie sagen, Ostdeutschland ist so oder so. Deswegen schreibe ich ja auch so ein Buch, daß man mal konkret und genau wird. Daß man durch eine Aneinanderreihung von Texten verschiedene Möglichkeiten zeigt, die man nicht in drei oder vier Begriffen auflösen kann. Solche schwarzweißen Kriterien sind nicht meine. Für mich spielen vielmehr Nähe und Distanz eine große Rolle. Ich möchte auch einmal aus Distanz über diesen Herbst 1989 schreiben. Dein „Helden wie wir“ war eine gültige Möglichkeit.

Brussig: Es ist ja auch kein Wenderoman, in dem Ursachen und Verlauf der Wende beschrieben werden. Das ist ein Buch, das ich aus Wut und Enttäuschung über die nicht stattgefundene Vergangenheitsbewältigung geschrieben habe. Ich stellte eine literarische Figur her, die sich mit ihrem Versagen auseinandersetzt. Sie hat die schlimmste Mitläuferbiographie, die ich mir ausdenken konnte, und erzählt das so freimütig, daß jeder ehemalige Mitläufer nichts beschönigen muß, sondern sein viel kleineres Sündenregister erzählen kann und vielleicht dabei ein Stückchen klüger wird.

Schulze: Geschichten treffen Geschichte eben genauer. Ich konnte das nur als „Storys“ wiedererzählen. Wenn ich versuche, das begrifflich zu beschreiben, wird das immer weniger sein als das, was als literarisches Bild entsteht. Man kann nur die Literatur hochhalten und sagen: Lest das. Man versteht über 89 eine ganze Menge, wenn man „Helden wie wir“ liest, und einiges, so hoffe ich, über das Danach, wenn man die „Storys“ liest. Aber darin erschöpft sich das ja nicht. Das ist wie bei Reitz oder bei Fassbinder, deren Filme unter anderem auch Lektionen im Geschichtsunterricht sind. Davon habe ich viel gelernt, denn ich muß mir erst einmal dieses Land aneignen. Bei Honecker war ich immer unmittelbar betroffen und dachte, dieser Idiot, was ist denn das wieder gewesen. Bei Kohl mußte ich erst ein Gefühl dafür bekommen, daß der mit mir überhaupt etwas zu tun hat.

Was halten Sie von der Behauptung, die interessante junge deutschsprachige Literatur könne nur aus dem Osten kommen?

Schulze: Das ist Unsinn.

Brussig: Nein, unbedingt! (lacht) Du mußt taktisch antworten!

Schulze: Wir haben beide den unverdienten Vorteil, daß wir den Osten kennen und den Westen kennenlernen wie einer, der im Ausland aufgewachsen ist. Der hat einen anderen Blickwinkel auf Hiesiges oder andere Kriterien, mit denen er umgehen kann.

Brussig: Mitte der neunziger Jahre habe ich aber auch einen Stimmungsumschwung bemerkt. Es gibt im Osten und Westen wieder Autoren, die viele Leser haben wollen. Die Zeit ist vorbei, in der Autoren von Stipendien und von Preisen gelebt haben und sich nicht mehr für den Verkauf ihrer Bücher interessieren mußten. Literatur wird wieder interessanter, weil sie dem Leser zugewandt ist. Auch in den Verlagen ist eine neue Situation entstanden. Sie entwickelten ein Interesse für junge Autoren. Das paßt alles zu unseren Büchern.

Schulze: Wenn man unsere Bücher vergleicht, sind die vom Ansatz her aber irgendwie ähnlich. Döblin sagt, man müsse den Stil aus dem Stoff kommen lassen. Vielleicht haben wir beide den angemessenen Sound geschaffen, mit dem jetzt einige Dinge nach 1989 sagbar werden. Aber wir haben beide nicht geahnt, daß das so eine politische Brisanz bekommt. Ich dachte immer, das würde ein ganz stilles Buch über Ostdeutschland werden, denn das Thema hat ja eigentlich nichts Spektakuläres. Wir sind doch eher konventionell.

Brussig: Na ja, als ich die „Helden“ geschrieben habe, war mir klar, daß ich mit der Faust ganz schön auf den Tisch haue. Aber es geht mir um die Sache, nicht um die Provokation an sich.

In vielen Texten ostdeutscher Schriftsteller glühte nach der Wende noch ein Funke einer Utopie. Haben Sie das noch?

Schulze: Ich bin sehr froh, daß die DDR zu Ende gegangen ist, und empfinde keine Trauer. Ich spüre eine starke literarische Generationsgrenze zu den vorherigen Generationen, die viel mehr in der DDR drinsteckten. Wir hatten das Glück, daß wir einen Anfang hatten, ohne richtig involviert zu sein.

Brussig: Utopie ist mir zu hochgegriffen, aber ich habe nicht nur einen künstlerischen, sondern auch einen moralischen Anspruch. Eine Sehnsucht nach Gerechtigkeit empfinde ich schon.

Schulze: Unsere Generation ist eher gegen Utopien gefeit. Es ist momentan eine Situation, in der man viel mehr sagen kann, dazu braucht man keine Utopie. Das sind relativ klare Sachen, die aber im Spiel der Mächte meist hinten runterfallen. Interview: Michael Neubauer