■ Deutschland nach dem Machtwechsel: Eine Momentaufnahme
: Out of Oggersheim

Im tiefstem Berlin-Kreuzberg, dort, wo sich Punk und Penner gute Nacht sagen, hat neulich irgendeine kleine esoterische Gruppe eine Art Ladenbüro eröffnet. Am Schaufenster klebt ein Zettel mit der größten aller Fragen: „Was ist der Sinn des Lebens?“ Alle Passanten dürfen ihre Lebenserfahrung auf fünf Quadratzentimeter Papier unterbringen. Normalerweise wäre diesem Versuch keine lange Lebenserwartung beschieden. „Fuck you“ und andere Kreuzberger Zärtlichkeiten würden ihm schnell den Garaus machen. Aber nein. Die Antworten mehrten sich jeden Tag, und sie waren ebenso zahlreich wie vielfältig. „Buffen“. Na ja, gut. „Sich über solche Fragen Gedanken machen“. Oder schlicht: „Leben“.

Es ist nur ein Zufall, daß diese Szene zeitgleich mit dem Machtwechsel geschah. Und doch spiegelt sie die verhaltene Fröhlichkeit, die jetzt allenthalben herrscht. Out of Oggersheim beginnt noch kein bißchen Paradies. Das wissen alle, besonders jene, die es sich schmerzlich abgewöhnen mußten, in Erlösungsszenarien zu denken. Aber wenigstens einige unserer irdischen Probleme könnten sich nun reduzieren.

Lustig mitanzusehen ist der Rollentausch im linksliberalen Lager: Während gestandene Linke allen Visionen im Jargon trockengelegter Alkoholiker abschwören, fühlen sich Schwärmgeister in der Zeit „illusionslos glücklich“. Und weil alles so neu scheint, so wunderbar, so leichter Hand machbar wie nie, geben sie dem neuen Bundeskanzler gleich eine „Regierungserklärung“ in die Hand: „Wo immer möglich, werden wir neue Gesetze mit einer Experimentierklausel versehen. Wirken sie nicht, werden sie geändert oder außer Kraft gesetzt. Jede Verordnung wird ein Verfallsdatum tragen. Und für jeden neuen Paragraphen streichen wir mindestens zwei alte.“ So zeigt sich bis ins tiefste Bürgertum hinein eine Sehnsucht nach Aufbruch, Neubeginn und zündenden Ideen. In der ächzenden Routine des Wahlkampfes war davon nichts zu spüren und zu ahnen.

Erstaunlich aber auch, mit welch undeutscher Gelassenheit sich die Politiker präsentierten – vorerst. Diejenigen, an deren Masken wir uns längst gewöhnt hatten, zeigten plötzlich wieder Gesichter. Kohl, lächelnd bei der Frage, ob er viel reisen werde: „Net so arg.“ Oder den Tränen nahe, als ihm sein Amtsnachfolger bei der Einheitsfeier am 3. Oktober „große Verdienste“ beim Aufbau eines vereinigten Europas bescheinigte. Fairneß allenthalben.

Woher bloß stammt die neue Leichtigkeit? Ist die Republik nun endlich auf ihren Begriff gekommen? Liegen sich West und Ost, Nord und Süd allseits in den Armen? Haben sich ihre politischen Generationen gar versöhnt, wie die Zeit vermutet? Ach, man sollte nicht durch die Hintertür das Pathos wieder hereinholen, das gerade erst weggeschickt wurde. Am wichtigsten ist wohl, daß nach langer Blockade die politische Energie nun wieder frei fließen kann. Der Reformstau ermangelte zwar wohl der Reformen, nicht aber des Staus. Den Geschmack von Stagnation und Mehltau hatten weit mehr Menschen satt, als es rot- grüne Fähnchenschwenker gibt.

Eine samtene Revolution wie in der Tschechoslowakei war dies gewiß nicht. Eher eine samtene Reformation. 16 Jahre lang hat der südliche Katholizismus regiert, mit Heimatgefühl und Winzerglück vor Sonnenuntergang. Nun kommt nordischer Protestantismus auf, von der Bonner Fastnacht wird in der Berliner Republik nur der Hofnarr übrigbleiben, und am Horizont dräut das Dreiliterauto. Wieder ein bißchen aufklärende Säkularisierung gewonnen.

Man möchte, wie weiland allerlei Revoluzzer, auf die Turmuhren schießen, damit die Zeit stehenbleibt. Verweile doch, du bist so schön! Diese Zwischenzeit ist kurz, bald werden wir unsanft auf dem Boden der Koalitionsvereinbarung landen. Entweder werden die Grünen über den Tisch gezogen oder aber sie ziehen unsere Hoffnungen über den Tisch. Der Haushaltsansatz wird wieder herrschen, und auch der Kapitalismus ist immer noch nicht lieb. Menschen werden wieder zu Politikern, es wird wieder Fraktionszwang, Frackzwang und Satisfraktionszwang geben. Zu schade. Ute Scheub