Im Himmel über Berlin

Von einem Prinz, der auszog, ein Dachgeschoß zu verzaubern  ■ Von Andreas Leipelt

Gut, daß da Rettungsringe hängen, an der Reling des gläsernen Schiffes über dem Berliner Himmel. Nur für den Fall, daß man von diesem Sonnendeck in die Springbrunnen der Luftschlösser fällt, die man baut, wenn man seine Füße aus dem Strandkorb streckt. In den Berliner Himmel.

Es war einmal ein junger Prinz. Obwohl er Juristerei studierte, zog er aus, um eine Werbeagentur zu gründen. In die Großstadt. Nach Berlin. Nur für den Fall, daß die Agentur einmal expandieren sollte, gründete er mit den Besitzern des Nachbargebäudes eine Kommanditgesellschaft. Und verzauberte, Simsalabim, die alte Borsigsche Lokfabrik in ein modernes Dienstleistungszentrum. Das man, um des Goldregens willen, vermietete. 1.500 Quadratmeter, die Hälfte davon Wohnungen. Und siehe da – die Agentur expandierte.

Und da Höhenluft Geist und Seele reinigt, küßte die Muße den jungen Prinzen als er die staubigen Treppen der Fabrik erklommen hatte und den Bretterverschlag auf dem Dach entdeckte: Poff! machte es und der Prinz mutierte zum Juristen. Die Erinnerungen an das letzte Baurechtsseminar erwachten zum Leben und vollbrachten das Unmögliche: Sie verwandelten die Baracke, die zu DDR-Zeiten auf dem Dach des fünfgeschossigen Gebäudes als Geräteschuppen gedient hatte, in Frau Holles Dachgeschoß.

Der Sage nach hatte einst die Königin ihren Hofarchitekten befohlen, kein Haus im Reich höher zu bauen als 22 Meter. Sie wollte es ihren Untertanen ermöglichen, ihre Sprößlinge vom Spielplatz zum Essen zu rufen, ohne Treppen steigen oder sich ihre Stimmen ruinieren zu müssen. Doch der Prinz hat keine Kinder. Er glaubt auch nicht an das Märchen, die Traufhöhe habe sich nach der Länge der Feuerwehrleitern gerichtet. Und da die Dachhöhe der Borsigschen Fabrik ohnehin bereits die gesetzlich vorgeschriebene Traufhöhe übersteigt, konnte diese durch einen weiteren Aufbau nicht mehr verletzt werden.

Also rief der Leichtbaumeister des Prinzen seine Helfer herbei: Gemeinsam mit Holztrollen, Glaskobolden und Stahlzwergen schuf er ein lichtes Dachschloß, dem Öko-Elfen grünes Leben einhauchten.

Um den Neidern zu entgehen, benimmt sich der Prinz seither wie Rumpelstilzchen. Er bleibt inkognito und verfolgt sein Motto: „Heute schau ich, morgen bau ich und übermorgen vermiete ich der Königin ein Loft.“ Welche Herrscherin könnte solch ein modernes Stadtschlößchen auschlagen: Mittendrin und doch fern von Straßenlärm, in inspirierender Höhe. Das Sonnenlicht flutet ungehindert durch schräge, gläserne Wände. Weil Dachgeschoßwände eben schräg sein müssen, auch wenn das Gebäude gar keinen Giebel hat, sondern ein Flachdach.

Ein L von 140 Quadratmetern bietet Raum für eine schmale, gläserne Tafel, umsäumt von einer Schar individueller, abgeschliffener Holzstühle. Auf Stahlschienen gleitende Türen aus mattem Glas verschleiern den Blick in die Küche. Neben dem Kamin schwebt eine Bank aus Beton. Eine rohe, klare, schwere Platte, gehalten von zwei verdeckten Stahlträgern. Sie liefert den notwendigen Kontrast zu Holzboden, Stahlsäulen, Glaswänden und Sonnenblumen. Eine Kunstinstallation füllt die Ecke, die ein bißchen an bemalte, auseinandergesägte und neu zusammengefügte Europaletten erinnert. Kunst auch an den wenigen Wänden, modern, sparsam, mit Bedacht.

Unergründbar der Trick, diesem weiten, lichten Ort etwas Spartanisches zu verleihen. Vielleicht liegt es an der Funktionalität dieses Wohnraumes: Vom Schlafzimmer führt eine Tür in das schlichte Bad. Von dort öffnet sich eine weitere in einen begehbaren Schrank. Als müsse der Prinz nur schlicht geschlossenen Auges diese Gefilde durchwandeln, um von dienstbaren Geistern geputzt, gestriegelt und angekleidet vor seiner Haustür zu stehen. Überflüssige Verkehrsflächen – Gänge, Flure, Korridore – sind auf ein Minimum reduziert. Gehobenes Wohnen im Vollsinn des Wortes, erhabenes Wohngefühl im Höhenrausch.

Der gesamte Leichtbau ist eingefaßt von einem Rundgang, in dessen Holz wasserdichte, runde Strahler versenkt wurden. Zwei Liegestühle flankieren einen dreieckigen Ikeatisch, Gartenstühlchen umringen ein Gartentischchen. Eine stählerne Treppe führt aufs Dach vom Dach, auf eine Plattform zum Träumen. Zwei Strandkörbe, eine Hängematte: Im Himmel über Berlin.

Im Osten der Alex, die Synagoge, das Scheunenviertel von oben; im Süden der Potsdamer Platz, der Reichstag. Ein Horizont voller Kuppeln. Vielleicht sind die rot-weißen Rettungsringe tatsächlich am Geländer angebracht, um an die Realität zu gemahnen. Als ob sich die Augen daran festhalten würden. Anker wären besser gewesen. Damit die Realität, in weite Ferne gerückt, wieder so nah erscheint, wie sie ist. Oder sein sollte. Warum eigentlich?