Kampf der Patriarchen

Am Wochenende bestimmt die einst verfolgte Minderheit der Armenier am Bosporus ihr religiöses Oberhaupt  ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Der Fischmarkt an der Cicek-Passage im Zentrum Istanbuls ist einer der schönsten Märkte der Stadt. Der Name stimmt nicht ganz, denn außer Fisch gibt es noch Obst und Gemüse. In kleinen Restaurants und Kiosken werden Muscheln gebraten. Der überdachte Fischmarkt und die Läden und Kneipen drum herum sind das Herz Beyoglus, des alten europäischen Zentrums von Istanbul. An der Hauptgasse des Marktes, zwischen frischem Levrek, dem berühmten Bosporus-Fisch, und Körben voller Tintenfische steht ein grünes Tor. Man kann hundertmal über den Markt gelaufen sein, ohne es wahrzunehmen, so unauffällig paßt es sich in die Umgebung ein. Sieht man es doch, wird man es für den Zugang zu einer Lagerhalle halten – was sonst könnte sich auf einem Markt hinter einem solchen Tor verbergen. Um so größer ist die Überraschung, wenn man durch das nur angelehnte Tor hindurchgeht.

Hinter dem Torbogen öffnet sich ein großer, gepflasterter Hof – dahinter steht eine Kirche. Auf den ersten Blick könnte man sie für eine griechisch-orthodoxes Gotteshaus halten, doch bei genauem Hinsehen erkennt man über dem Portal eine unbekannte Schrift. Das Gebäude im Zentrum von Beyoglu ist eine der ältesten und schönsten armenischen Kirchen der Stadt. Obwohl in dem Stadtteil kaum noch Armenier leben, versammelt sich hier die reichste armenische Gemeinde der Türkei. Der mitten im Fischmarkt versteckten Kirche gehört praktisch der gesamte Markt. Grund und Boden inklusive Immobilien sind seit Jahrhunderten im Besitz der armenischen Gemeinde. Von 400 Geschäften, Büros und Restaurants kassiert eine religiöse Stiftung der Gemeinde die Miete oder eine Pacht. Dieser Reichtum weckt Begehrlichkeiten, und die sind letztlich der Grund, warum unter den Armeniern Istanbuls zur Zeit ein erbitterter Streit ausgetragen wird. Etwa zehn Kilometer Luftlinie von Beyoglu entfernt, auf der anderen Seite des Goldenen Horns, in der Nähe des alten Sultanspalastes in Kumkapi, ist der Sitz des armenischen Patriarchats. Das einstmals reiche Viertel ist heruntergekommen. Patriarchat, armenische Schule und Kathedrale wirken wie eine Insel im Gassengewirr. Hier residiert der Patriarch, das geistliche Oberhaupt aller noch in der Türkei lebenden Armenier. Seit dem Völkermord in der Endphase des osmanischen Reiches in den Jahren von 1915 bis 1920 wurden alle Armenier des Reiches in die syrische Wüste zwangsdeportiert. Dabei kamen mehr als eine Million Menschen um.

Auf 70.000 Menschen schätzt der amtierende Patriarch seine derzeitige Gemeinde, mehr als 60.000 davon leben in Istanbul. Patriarch Mesrub Mutafyan ist erst 42 Jahre alt. In der US-amerikanischen Diaspora ausgebildet, weltoffen und bestens informiert, sorgt er schon jetzt, obwohl erst kommissarisch im Amt, für neuen Schwung.

„Mutafyan“, sagt Hrand Dink, „hat die Jugend für die Gemeinde zurückgewonnen. Die jungen Leute kommen wieder in die Kirche oder in die Kulturzentren der Gemeinden, es passiert wieder etwas. Die armenische Gemeinschaft Istanbuls ist aus jahrzehntelanger Erstarrung erwacht.“ Hrand Dink ist Chefredakteur der in Istanbul erscheinenden armenischen Wochenzeitung Agos. Ohne große finanzielle Mittel, getragen vom Enthusiasmus eines jungen Teams, hat sich die vor drei Jahren gegründete Zeitung einen festen Platz auch außerhalb der armenischen Gemeinde erworben. Die Zeitung erscheint auf türkisch und armenisch. Sie soll „unsere Positionen“ auch außerhalb der Gemeinde darstellen, so Hrand Dink. Denn: „Wir wollen auch in der türkischen Öffentlichkeit gehört werden.“

Agos unterstützt Mutafyan. Der soll an diesem Wochenende offiziell zum Patriarchen der armenischen Kirche in der Türkei gewählt werden. Vom Ausgang der Wahl – wie in der römisch-katholischen Kirche wird das religiöse Oberhaupt auf Lebenszeit gewählt – hängt für die Armenier eine Menge ab. Der Patriarch ist nicht nur der Chef des Klerus, sondern auch Pate der Gemeinde. Als ehemals verfolgte Minderheit sind die Armenier auf ihn weit mehr angewiesen als christliche Gemeinden im Westen auf ihr Oberhaupt. Der Patriarch vertritt seine Gemeinde auch gegenüber dem türkischen Staat. Der Gegenspieler von Mesrob Mutafyan ist Erzbischof Sahan Sivaciyan. Der ist bereits 72, durch und durch konservativ und auf den Erhalt des Status quo bedacht. Sivaciyan, der sich schon zur Ruhe gesetzt hatte, gehört zur Gemeinde im Fischmarkt von Beyoglu und wurde von einflußreichen Kreisen inner- und außerhalb der armenischen Gemeinde gegen Mutafyan in Stellung gebracht. Seine Unterstützer erwarten von ihm nur eins: Er soll niemandem in die Quere kommen.

Der Wahlvorgang ist kompliziert. Am Samstag tritt die Heilige Synode zusammen und wählt zehn Geistliche, die als Delegierte in die eigentliche Wahlversammlung geschickt werden. Einen Tag später wählen die Gemeinden ihre Delegierten, je nach Anzahl der Mitglieder einen bis 14 Vertreter. Die Gemeinden wählen insgesamt 79 Delegierte. Fünf von ihnen kommen aus Ostanatolien, dem historischen armenischen Siedlungsgebiet, alle anderen aus Istanbul. Zusammen mit den zehn geistlichen Delegierten bilden sie die Wahlversammlung. Die Delegierten für Mutafyan kandidieren auf einer lilafarbenen Liste, die Konservativen auf einer weißen.

Die Wahl, die nach dem Tod des alten Patriarchen Kerakin II am 10. März dieses Jahres zunächst als reine Formsache für dessen Stellvertreter Mesrob Mutafyan erschien, wurde nach und nach zu einem Politikum, in dem auch der türkische Staat eine dubiose Rolle spielt. Es begann mit einer Kampagne rechter türkischer Zeitungen gegen Mutafyan. Der sei ein heimlicher „Daschnake“, hieß es – Anhänger einer ehemals militanten armenischen Organisation, die heute als radikalnationalistische Partei in Armenien antritt. Er sei von der armenischen Regierung in Jerewan gesteuert und antitürkisch eingestellt.

Nach dieser öffentlichen Denunziation erfolgte eine massive staatliche Intervention. Im Juni teilte der stellvertretende Gouverneur von Istanbul, Osman Demir, Mutafyan mit, er habe nicht das Recht, den Titel „kommissarischer Patriarch“ zu führen. Dies stünde nach dem „Senioritätsprinzip“ vielmehr Erzbischof Sivaciyan zu. Bis zu diesem Brief hatte in der armenischen Gemeinde noch niemand etwas von einem Senioritätsprinzip gehört. Es existiert weder im Kirchenrecht noch in den Verträgen von Lausanne aus dem Jahr 1923, die unter anderem die Rechte der armenischen, griechischen und jüdischen Minderheiten in der Türkischen Republik regeln.

Mit dem Verdikt des stellvertreteden Gouverneurs verschärfte sich der Konflikt. Statt zu kuschen, bekräftige die Synode Mutafyan zuerst als kommissarischen Patriarchen, und nach einer erneuten staatlichen Intervention wählte sie ihn mit nur drei Gegenstimmen sogar zum amtierenden Patriarchen. Daraufhin verweigerte der Gouverneur seine Genehmigung zur Wahl eines regulären neuen Patriarchen, um Zeit zu gewinnen und seinen Favoriten Sivaciyan in eine aussichtsreiche Position zu bringen. Erst im September erteilte dann der Ministerrat in Ankara die Genehmigung, die Wahl eines neuen Patriarchen zu terminieren.

Nachdem dieser dann offziell seine Kandidatur erklärt hatte, begann eine in der armenischen Gemeinde beispiellose Wahlschlacht. Dabei ist unklar, wer eigentlich wen benutzt. Was auf den ersten Blick wie eine klassische politische Einmischung des türkischen Staates in die verbrieften Rechte einer Minderheit aussieht, ist nach Auskunft von intimen Kennern der Verhältnisse viel komplizierter. Der bekannteste armenische Publizist in Istanbul, Etyen Mahcupyan, spricht von einer „mafiösen Kampagne“, in die auch ein Teil der armenischen Gemeinde verstrickt sei. Sivaciyan ist nicht nur der älteste armenische Erzbischof, er ist auch Geistlicher der Kirche vom Fischmarkt in Beyoglu.

Diran Bakar ist Mitherausgeber von Agos und im Hauptberuf Anwalt. Er ist einer der besten Kenner der Eigentumsverhältnisse am Fischmarkt. Bakar spricht aus, was andere nur andeuten. Vertreter der armenischen Gemeinde, die als Stiftungsvertreter für die Vermögensverwaltung zuständig sind, würden unter Einbeziehung korrupter Polizisten der „Generaldirektion für Sicherheit“, die auch für die Minderheiten zuständig ist, in die eigene Tasche wirtschaften. Diese Seilschaft aus armenischer Mafia und Polizei stehe hinter der Kandidatur Sivaciyans, weil sie einen Patriarchen Mutafyan als Bedrohung für ihre Geschäfte empfinden würden.

Beykoz, ursprünglich ein Fischerdorf, ist heute einer der schönsten Vororte Istanbuls. Auf der asiatischen Seite direkt am Bosporus gelegen, sind die alten osmanischen Holzhäuser malerisch den Hang hoch gebaut. Direkt an der alten Hauptstraße, verborgen hinter einer hohen Umfriedung, wird eine kleine armenische Kapelle liebevoll gepflegt, obwohl in Beykoz längst nicht mehr genug Armenier leben, um hier jeden Sonntag einen Gottesdienst abzuhalten. Aus diesem Grund veranstaltet die armenische Gemeinde ab und zu Gemeindefeste, zu denen dann Freunde und Verwandte aus ganz Istanbul anrücken. Vor zwei Wochen tauchte der amtierende Patriarch Mutafyan persönlich auf, um seine Schäfchen zu sammeln. Am Kopfende einer langen Tafel, an der gut gegessen und viel gesungen wurde, wirkte er so unprätentiös und volksnah, daß man seine Beliebtheit gerade unter jüngeren Armeniern leicht nachvollziehen konnte. Mutafyan ist in ihren Augen der richtige Repräsentant, um den Armeniern ihren Platz in einer modernen, demokratischen Türkei zu sichern. Die in Beykoz versammelten Gemeindemitglieder waren denn auch überzeugt, daß Mutafyan die Wahlen gewinnen wird, wenn alles mit rechten Dingen zugeht.

Das scheint indes mehr und mehr in Frage zu stehen. Die Sprecherin des Patriachats, Luiz Bakar, berichtete der türkischen Tageszeitung Cumhüriyet von massiven Einschüchterungen gegenüber Delegierten auf der Liste Mutafyans. Dessen Anhängern sei bedeutet worden, sie würden ihren Job verlieren, andere seien physisch bedroht worden. In der Kirche in Samatya in der Nähe des Patriarchats in Kumkapi tauchten während des Gottesdienstes ein Dutzend Beamte der Finanzpolizei auf und verlangten, die Bücher der Gemeinde einzusehen.

Mutafyans Gegenspieler Erzbischof Sivaciyan hat natürlich mit all diesen üblen Machenschaften nicht das geringste zu tun. Er macht keinen Wahlkampf, sondern nimmt nur sein Amt war. Am selben Tag, als die Gemeinde in Beykoz zusammen mit ihrem amtierenden Patriarchen das Andenken einer Verstorbenen feierte, zelebrierte Sivaciyan im vollen Ornamat eine pompöse Hochzeit in seiner Kirche. Im Gewand des Erzbischofs, den Krummstab in der Hand und die Mitra in die Stirn gezogen, präsentierte er sich als Verkörperung der Tradition. Vor allem alteingessene armenische Familien Istanbuls unterstützen ihn auch deswegen.

Die Armenier in Istanbul, sagt der Publizist Mahcupyan, seien ein getreuer Spiegel der türkischen Gesellschaft: „Es gibt Demokraten, Leute, die Austausch und Verständigung wollen, es gibt Traditionalisten, die ihr Heil im Gewohnten suchen, und es gibt Mafia, Korruption und Verbrechen. Alles wie im wirklichen Leben.“