Die kleinen Strolche

Der rumänische Mensch im „Hotel Europa“: Dumitru Tsepeneag bleibt seinen streunenden Helden auf der Spur  ■ Von Harry Nutt

Die Wiedererweckung Sonias oder Silivias ist die Metapher des neuen Rumäniens. Bei dem Überfall der konterrevolutionären Bergarbeiter auf die protestierenden Bukarester Studenten kurz nach der Hinrichtung Ceaușescus hält man sie für tot und bereitet sie im Leichenschauhaus auf die Beerdigung vor. Ein nekrophiler Totengräber vergreift sich an der scheintoten Studentin und holt sie so ins Leben zurück. Fortan verläßt die durch eine Vergewaltigung Überlebende als Prostituierte das Land, um an den verschiedenen Schauplätzen des Romans, in Budapest, Wien, München und Paris aufzutauchen.

Silivia, die sich später Sonia nennt, Ion, Mihai, Ana und andere Studenten sind das Personal eines in Paris lebenden rumänischen Exilschriftstellers, der mit einem Transport der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ in seine Heimat zurückkehrt und einen Roman über die Revolution schreiben möchte. Aber gab es überhaupt eine Revolution? War Ceaușescu Täter oder am Ende gar Opfer einer Verschwörung seines Geheimdienstes Securitate? Und welche Rolle spielt der Dichterpräsident Iliescu, welche der dem Tennismanager Ion Tiriac ähnlich sehende Haiducu, der als Helfer oder Verfolger – wer will das so genau wissen – die Wege des Romanpersonals kreuzt?

So wenig sich dem Schriftsteller die historischen Fakten zu einer erzählbaren Geschichte ordnen, so störrisch verhalten sich auch seine Figuren, die er mit Hilfe von Fähnchen auf einer Karte des sich wandelnden Europas im Blick zu behalten versucht. Die Wirklichkeit ist unüberschaubarer als die Dichterphantasie, und der Arzt hat dem Schriftsteller ohnehin zu einer Geschichte geraten, die ihn nicht allzusehr aufregt. Also schickt er seine jungen Helden in einen sentimentalischen Reiseroman mit ungewissem, aber nicht unglücklichem Ausgang.

Nach den turbulenten Ereignissen auf dem Bukarester Universitätsplatz verläßt Ion seine Heimat, um die in Richtung Ungarn aufgebrochene Kommilitonin Maria zu suchen. Kleine Strolche machen sich auf in ein Europa, von dem nicht klar ist, wo es beginnt und wo es endet. Die Bezeichnung golani, Strolch, reklamieren sie mit einigem Stolz für sich. So hat der postkommunistische Staatspräsident Iliescu die Studenten genannt, als sie auf dem Bukarester Universitätsplatz für Demokratisierung und die Zerschlagung kommunistischer Strukturen demonstrierten. Doch die Strolche werden zur Gestaltung ihres eigenen Schicksals nicht zugelassen. Nicht in Rumänien und auch nicht in Ungarn, Österreich, Deutschland oder Frankreich, wo man dem Rumänen die Rolle des Zigeuners, Gauners und Ganoven zugewiesen hat. Das rumänische Bandenwesen ist den jungen Helden des Romans stets auf der Spur, um ihnen letztes Geld und Habe abzujagen, als Stigma eilt es ihnen voraus.

Das „Hotel Europa“, aus dem Tsepeneag erzählt, ist kein tragischer Ort. Im Casino und auf Trabrennbahnen kommt Ion immer wieder zu kleinen Gewinnen, um seinen Weg im Roman fortsetzen zu können. Väterliche Freunde gewähren philosophischen Rat und ältere Frauen tragen zur sexuellen Aus- und Weiterbildung bei. Die gesuchte Maria entpuppt sich als Sinnbild eines offenen Europas, in das man aufbricht, in dem man aber nicht ankommen kann. Prag, und nicht Paris, ist das Zentrum Europas, heißt es an einer Stelle. Und warum gehört Griechenland dazu und nicht die Türkei? Dumitru Tsepeneag hat einen Schelmenroman geschrieben und den jungen Außenseitern aus dem Südosten Europas eine vorläufige Geschichte verliehen. Strolche unterwegs, ein bißchen Bomber und Paganini, ein bißchen Wilhelm Meister. Wie Boris Becker einst auf seinen schnauzbärtigen Manager, wird Europa auf die Strolche nicht verzichten können. Harry Nutt

Dumitru Tsepeneag: „Hotel Europa“. Roman. Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Alexander Fest Verlag, Berlin 1998, 447 Seiten, 45 DM