Vermächtnis des Lebens

Wenn russische Emigranten sich in New York um das Bett eines Sterbenden versammeln, geht es lustig zu. Ljudmila Ulitzkajas Roman „Ein fröhliches Begräbnis“  ■ Von Ulrike Baureithel

Viel ist die Rede vom Sterben in diesen Monaten. Wer wem wann auf den letzten Weg verhelfen darf und unter welchen Umständen, soll man neuerdings in „Patiententestamenten“ niederlegen, und die Bundesärztekammer ringt sich Richtlinien fürs Sterben ab, als ließe sich der Tod per Dekret reglementieren. Mit einem Testament ganz eigener Art, das im Unterschied zum inflationären Sterbediskurs den Tod ganz selbstverständlich nimmt, beglückt die Prosaistin Ljudmila Ulitzkaja, und es ist, was Literatur sein soll und russische Literatur auf ihrem Höhepunkt immer war: Ein Vermächtnis des Lebens.

Die Geschichte, die Ulitzkaja erzählt, umfaßt nur wenige Tage, und sie führt in einen New Yorker Loft, wo der aus Rußland stammende muskelkranke Maler Alik auf seinen Tod wartet. Das Krankenhaus hat Alik verlassen, um all die Lieben um sich zu sammeln, mit denen sich sein Schicksal locker und fest verknotet hat: Seine Frau Nina, die als alkoholsüchtiges und lebensfremdes Traumboot durch die Tage gleitet; Irina, die ungleich lebenstüchtigere juristische Drahtseiltänzerin; Valentina, die mollige Geliebte, die autistische Halbwüchsige, zu der Alik seinen Draht spannt. Um diesen Inner-circle kreisen die Joykas und Libins, die Ljudas und Ljowas und über allen Fima, der an der Sprache gescheiterte Arzt, der für Alik nur noch die letzte Injektion bereithalten kann.

Es ist eine fröhliche, groteske Gesellschaft, die da kommt und geht, Geld hinterläßt, eine Kräutertinktur oder eben nur ein bißchen Mut zum Weiterleben. Einig ist man sich während der ausschweifenden Gelage eigentlich nur in seiner Liebe zu Alik. Je bewegungsunfähiger dieser wird, desto bewegender wird das Fest. Mit den Frauen um sich herum unterhält der gelähmte, körperlos werdende Maler eine Art Lebens-Versicherung.

Doch was diese Emigrantenschicksale, die sich auf merkwürdigste Art und Weise kreuzen, tatsächlich zusammenhält, sind die vielfältigen Trennungen in der Vergangenheit und das zwiespältige Verhältnis zu ihrer alten Heimat: „Alle, die hier saßen, in Rußland geboren, verschieden durch Begabung und Bildung, auch durch ihre bloßen menschlichen Eigenschaften, glichen sich in einem Punkt: Sie alle hatten Rußland auf die eine oder andere Weise verlassen.“ Und je komplizierter ihre amerikanische Existenz wird: Was sie alle verbindet, ist das Bedürfnis nach „Bestätigung, damals richtig gehandelt zu haben“.

So fädelt Ljudmila Ulitzkaja mit leichter Hand die Schicksale dieser Menschen auf ihre Erzählschnur, um in typisch russischer Manier der tragischen Geschichte noch etwas Heiteres abzugewinnen. Dieser altmodisch anmutende Erzählfaden führt zurück nach Petersburg und Moskau, oder er führt auf den nächtlichen Fischmarkt New Yorks und in die Spelunken, von deren Gerüchen und Farben sich Alik ebenso berauschen läßt wie seine Gefährtin Valentina.

Wenn Pope Viktor den Todkranken mit Tequila „tauft“ und mit ihm über Gott und die Welt sinniert; wenn Reb Menasche den Maler, der sich zwischen Apfel, Pfirsich und Granatapfel nie entscheiden konnte, von der jüdischen Auserwähltheit überzeugen will, dann erreicht die in ihrer Heimat lange verschmähte Ulitzkaja jenen Kulminationspunkt, wo sich russische Schwere in die Leichtigkeit der neuen Welt verwandelt. Es ist ein „anderer Aggregatzustand“, in dem sich das unendliche russische Leiden auflöst in diesem Land, das kein Leiden kennen will und das alles Schwere nach Kräften negiert.

Alik, der verantwortungslose, leichtlebige Kumpan, der anderen zu vermitteln weiß, daß das Leben erst am nächsten Montag beginnt und dann sicher besser, steht „als Schiedsrichter“ zwischen alter und neuer Welt: „Er war ungeheuer und mit Leidenschaft parteiisch. Er spürte nie die Notwendigkeit, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, er stand auf seiner eigenen Seite und die erlaubte ihm, alle gleichermaßen zu lieben.“ Mit der skurrilen Ansammlung von Menschen, die ihm einen fröhlichen Totentanz aufführen, hat Alik sich zuletzt „sein eigenes Rußland geschaffen“, mitten in New York.

„Ein Hymnus auf die Liebe und das Leben“? Was die deutsche Kritik an der russischen Autorin, die derzeit am Starnberger See lebt und arbeitet, schon an Ulitzkajas letztem Roman „Medea und ihre Kinder“ begeisterte, ist ihre lebendige Erzählfarbe, der klare Strich, die kontrastreichen Bilder. Die Malerei prägt das „fröhliche Begräbnis“ jedoch nicht nur formal, die Figur Alik ist darüber hinaus dem ersten Mann Ulitzkajas nachempfunden, „sehr jung und sehr talentiert, von vielen Freunden und Frauen umgeben“.

Das hymnische Lob, das der Moskauerin und ausgebildeten Biologin zuteil wird, hat jedoch noch einen tieferen Grund. Es verweist auf jene intensive „Anwesenheit einer Abwesenheit“, die auch Alik für sich beklagt: Glaubensverlust. Ulitzkaja „glaubt“ an das Leben, ein Glaube, den wir, die wir uns durch „Patiententestamente“ versichern, längst verloren haben.

Ljudmila Ulitzkaja: „Ein fröhliches Begräbnis“. Roman. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Volk&Welt, Berlin 1998, 180 Seiten, 29,80DM