Leidenschaftsgeschichten und Geduldsgeschichten

Antonio Tabucchis „Piazza d'Italia“ und „Die drei letzten Tage des Fernando Pessoa“: Kleine Literatur, die große Geschichten berührt, ohne Fahnen zu hissen  ■ Von Leopold Federmair

Zwei Bücher von Antonio Tabucchi beleuchten zwei Facetten ein und desselben Autors: „Piazza d'Italia“, Tabucchis Erstlingsroman, geschrieben vor einem Vierteljahrhundert, und „Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa“, eine kleine Dialogschrift um den portugiesischen Dichter, den sich Tabucchi zum literarischen Hausgott erwählte. Im Nachwort zur italienischen Neuauflage von „Piazza d'Italia“ fragt sich Tabucchi: „War ich damals derselbe wie der, der ich heute bin, oder ein anderer?“ Darüber und über die Frage, ob seine damalige Rechnung aufging, soll, so Tabucchi „jemand sprechen, der sich auskennt“. Zu diesen zähle ich nicht, aber das ist auch nicht nötig, denn die Antwort ist im Grunde nicht schwer. Tabucchi war 1973 derselbe wie heute, und zugleich war er ein anderer. Es verhält sich hier wie mit den Heteronymen Pessoas, über die man noch so sehr staunen kann – sie bleiben letztlich doch an das Autonym, das auf deutsch „Niemand“ bedeutet, gebunden.

Im Vergleich zu späteren Werken Tabucchis ist „Piazza d'Italia“ fröhlicher, bewegter, sprunghafter. Der Roman, der aus zahllosen kleinen, bald skurrilen, bald rührenden, bald phantastischen Geschichten besteht, erzählt ganz nebenbei die Geschichte Italiens von den Tagen Garibaldis bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Blickwinkel, aus dem die politischen und privaten Kämpfe, die Leidenschafts- und Geduldgeschichten geschildert werden, ist tatsächlich volkstümlich, wie es der Untertitel („Eine Geschichte aus dem Volk“) andeutet. Die Helden haben etwas vom Picaro, vom klassischen Schelm. Sie sind Anarchisten, Deserteure, Partisanen, hoffnungsfrohe Auswanderer, erfahrungsbeladene Heimkehrer, Frauen, die sich ohne große Ideologie in der Männerwelt behaupten, indem sie ihre sinnlichen und übersinnlichen Begabungen nutzen. Einen Gutteil ihrer Energie verwenden sie darauf, gegen staatliche, kirchliche, militärische Institutionen, letztlich gegen den Mahlstrom der Geschichte Widerstand zu leisten. Das gelingt ihnen von Mal zu Mal, auch wenn der Preis, den sie zahlen müssen, oft hoch ist. In günstigeren Fällen verlieren sie ein paar Finger oder Zehen, in schlimmeren ein Bein oder gar Kopf und Kragen.

„Die Zeit hatte in Garibaldos Familie schon immer merkwürdige Kapriolen geschlagen“, heißt es im Epilog, der am Anfang von „Piazza d'Italia“ steht. Tabucchi frönt in diesem Buch einer karnevalesken Lust am Umkehren der Zeitläufe, am Vermischen der Bilder, am Erfinden seltsamer Begebenheiten. Der Übermut des Erzählens, der hier durchschlägt, weicht in späteren Werken oft einem elegischen Ton, einer verhaltenen Liebenswürdigkeit, mit der Figuren wie Pereira Menschen und Dingen begegnen. Die Sprünge des Schelms verwandeln sich in eine feinere Unruhe, die rasch entworfenen, farbkräftigen Bilder weichen zarteren Aquarellen. Mag sein, daß die Munterkeit, die „Piazza d'Italia“ prägt, die politische Aufbruchstimmung spiegelt, die zur Zeit seiner Niederschrift – vor der Entführung Aldo Moros, vor der Bombe von Bologna – in der italienischen Linken herrschte. Dessen ungeachtet ist Tabucchis Erstlingswerk so frisch wie eh und je. Mit seinen Erzählkapriolen schlägt es der Zeit ein Schnippchen.

Eine ganz andere Stimmung herrscht in dem Büchlein, das mit den Mitteln der Fiktion, unter Verwendung biographischen und literaturgeschichtlichen Materials, die letzten drei Tage Fernando Pessoas beschreibt. Tabucchi bringt hier etwas zum Tragen, das in „Piazza d'Italia“ noch kaum ausgeprägt ist: seine besondere Kunst des Dialogs, in der sich alltägliche, ja banale und lebensphilosophische Rede fast unmerklich mischen. Pessoa wird in seinem Sterbezimmer von vier „Heteronymen“ besucht, die sein Lebenswerk wesentlich bestimmt haben, sowie von einem Philosophen, den er in einer psychiatrischen Klinik kennengelernt hat. Die Vier vertrauen ihm kurz vor seinem Tod ihr jeweiliges Geheimnis an, aber Pessoa hat dieses Geheimnis schon gekannt – eine Konstellation, die sinnbildlich ist für das Schreiben der Unruhe: das Geheimnis gibt sich an der Oberfläche preis, doch sein Träger verbirgt sich in der Tiefe, wie jener Pfarrer aus „Piazza d'Italia“, der mit einem ungehörten Satz auf den Lippen in einer Felsspalte verschwindet.

Das Geheimnis ist stets anwesend, es ist nur nicht direkt benennbar. Die Wirkung dieser Konstellation auf den Sprachstil des Autors ist ein Vibrieren der Sätze, das sich auf den Leser körperlich übertragen kann, ein Zittern, das nicht (wie bei Kierkegaard) unter dem Druck eines übermächtigen Gewissens zustande kommt, sondern in Erwartung von etwas Kommendem, dessen Identität man möglicherweise nie erfahren wird, das aber die Gegenwart – die Schrift, das Erzählen, den Körper – bestimmt und orientiert.

Der Name Tabucchi steht heute für eine „kleine Literatur“, deren Qualität in den Differenzen, Nuancen und Zwischentönen liegt, wobei sie große Themen berührt, ohne sie auf wehende Fahnen zu heften. Eine Truhe von kleinen Geschichten, die das Geheimnis in sich tragen, ist bereits „Piazza d'Italia“ – und ist insofern ein Vorläufer von Erzählsammlungen wie „Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung“. Umgekehrt wurzeln auch spätere, esoterische Texte Tabucchis im zeitlich und räumlich Konkreten, in sozialen und politischen Verhältnissen, an denen seine Protagonisten meist anecken. Der existentielle Hintergrund scheint bald stärker, bald schwächer durch das Gewebe aus Geschichten und Dialogen. Das Erstaunliche an Tabucchis Kunst ist die Leichtigkeit, mit der er beides zu konjugieren versteht.

Antonio Tabucchi: „Piazza d'Italia“. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1998, 192 Seiten, 34 DM

Antonio Tabucchi: „Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa“. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Hanser Verlag, München 1998, 72 Seiten, 20 DM