Das schwarze Herz der Finsternis

Einstürzender Neubau auf Textruine: Oliver Stones „Night Dream“ bringt Roman und Leben durcheinander  ■ Von Georg Seeßlen

Oliver Stone ist schon ein merkwürdiger Kautz. Er ist sensibel, moralisch, kritisch, auf der Flucht von Amerika nach Amerika, in ständiger Selbstbefragung beschäftigt und stets auf der Suche nach etwas Neuem. Aber er ist auch ein furchtbarer Berserker, ein Salzstangenphilosoph und Vulgärpsychologe übelster Sorte, ein ästhetischer Holzhacker im Reich der Grashalme. Als wollten da nicht nur Empfindung und Körper, sondern auch Wille und Vorstellung nicht ganz zusammenpassen. Seine Filme wollen etwas zertrümmern, gegen etwas protestieren, von dem sie nicht genau wissen, was es ist. Am ehesten bei sich sind seine Werke, wenn sie etwas „Schamanisches“ erreichen und am intensivsten, natürlich, dort, wo sie weder argumentieren noch irgend etwas übertrumpfen wollen, sondern Teil einer magischen Biographie sind, in deren Mittelpunkt die Erfahrung von Vietnam steht.

Um beides, die magische Biographie und das Schamanische als Bannung der dämonisch beseelten Welt, geht es auch in dem Roman, der zugleich Oliver Stones erstes und neuestes Werk ist. Und das kam so: 1966 wollte Oliver Stone ein Schriftsteller werden und schrieb einen ungefähr tausend Seiten langen Roman, fernab von seiner Familie, fernab von der Universität, auf der er nach ihrem Willen eigentlich studieren sollte, in Mexiko. Als sich kein Verleger fand und die Streitereien mit der Familie und, wie Stone sagt, „der amerikanischen Gesellschaft im ganzen“ zunahmen, warf er einen Teil des Manuskripts fort, andere Teile überlebten in Schuhkartons den nächsten Abschnitt seines Lebens: Oliver Stone meldete sich als Freiwilliger für Vietnam. Jahrzehnte später, er war heimgekehrt, hatte viele Filme gedreht, darunter auch sehr erfolgreiche, gab er einem Verleger einige der überlebenden Seiten zu lesen, und jetzt wurden die literarischen Qualitäten auch dieser ruiniertesten aller Roman-Ruinen erkannt. Oliver Stone baute auf den Trümmern ein paar literarische Neubauten auf, die gar nichts anderes als unentwegt einstürzen können, weil es als Fundament nichts als die hemmungslose Verzweiflungssuada eines 19jährigen gibt, der nichts und niemanden findet, seinen Kummer und seinen Ekel loszuwerden, als eben die Blätter Papier vor sich.

Natürlich gehört zu Stones Maßlosigkeit, daß er aus seinem eigenen literarischen Nachlaß nicht bloß einen neuen Roman zu gewinnen versucht, sondern mindestens vier: eine biographische Selbstdiagnose, einen wüst-veristischen Vietnambericht, eine klassische Seefahrergeschichte zwischen Jack London und Herman Melville und die Familiengeschichte des Oliver Stone, geboren als einziges Kind eines amerikanischen Geldmachervaters und einer französischen Mutter, der man vorwiegend auf Parties mit Pelz und Prominenz begegnet, und deren „Olive-r-r- r-e“ noch durch die wirrsten Träume von Sex, Erfolg, Abenteuer und Gewalt geistert.

Vielleicht spricht Stone so anders von Vietnam, weil er nicht, wie so viele seiner Altersgenossen, dort „hingeschickt“ worden ist, sondern im Gegenteil dort hin wollte, den unlösbaren Rätseln seines zerbrochenen Familienromans ebenso zu entkommen wie den Brüchen seines Bildungsschicksals. Oliver Stone hat viel gelesen, und das muß auch wieder heraus: als Text, als Film oder direkt als Leben. Er hätte gern ein Joseph-Conrad-Leben geführt, aber das konnte nicht klappen. Denn in Vietnam löste sich jeder Mythos in barbarische Details auf. Das schwarze Herz der Finsternis erwies sich selbst noch als Illusion, und es blieben nur Huren und sterbende Menschen, Fetzen von Erinnerungen und ein ehrliches Bekenntnis, daß man nicht nur Zeuge und Opfer, sondern auch Teil des Grauens ist.

Anhand der vier Romane, die „Night Dream“ enthält und von denen es schwer fällt zu glauben, sie stammten alle vom selben Autor, sortiert Oliver Stone sein Leben noch einmal neu. Der Text wird, wie er am Ende sagt, zu jenem Freund, „Bruder“ und Begleiter, den der echte Oliver Stone nie gehabt hat. Es geht da zu wie in einem Oliver-Stone-Film: Er haut uns sein Leben, seine Empfindungen, seinen ästhetischen Kannibalismus, das Intimste und das Entlegenste um die Ohren und bittet doch zugleich um Mitleid, Verzeihung und Verständnis. Er schreibt mal automatistisch, dann wieder à la belle manière, er wechselt Rollen und Perspektiven und unterstützt uns dabei immerhin insofern, als sein Text in drei Hauptteile, „Amerika“, „Land Jenseits des Meeres“ (Vietnam) und „Heimwärts“ (der Abenteuertraum), ein Zwischenspiel, einen Prolog und einen Epilog gegliedert ist. Drei große und ein paar kleine Anläufe, die dann doch mehr zu abenteuerlichen Stürzen als zu literarischen Sprüngen werden. Langweilig ist das nicht. Aber weder ist ein Ziel in Sicht, noch wird eine Methode deutlich.

Was soll man davon halten? Immerhin kommt einem die Person Oliver Stone, bei allen Maskierungen und Verrenkungen, doch näher als in den meisten seiner Filme. Man könnte sie besser verstehen, noch besser ihr Scheitern verstehen. Die Parforcetour von pubertierendem Protestschreiben, die Manie, das ödipale Drama nicht nur genußvoll zu zelebrieren, sondern gleich auch noch zu zerhacken, über den Verismus der Kriegsberichterstattung von einem, der nie eine Haltung zum Krieg haben kann, weil er nichts anderes erfährt als diesen endlosen Augenblick, in dem er selber der Krieg ist, bis zur finsteren, beinahe altmeisterlich ausgeführten Metapher aus dem Schiffsbauch des Seelenverkäufers – all das ist Ärgernis und Befreiung zugleich.

334 Seiten Anmaßung; ein Berserker enthüllt seine zarte Seele, ein Muttersöhnchen rekonstruiert sich als Killerbarbar, jemand will sich schreibend seines Buddhismus vergewissern und bekommt doch nur ein schönes Durcheinander in der Bibliothek hin. Vielleicht hätte man früher einen solchen Text „expressionistisch“ genannt. Das nimmt mit und wühlt auf, das schreit und ächzt. Aber mittendrin bleibt es stehen. Und es ruft: Hey, seht Ihr mich? Wie toll ich schreien und ächzen kann! Und genau das ist der Punkt, wo es einem doch ein bißchen peinlich ist. Langweilig aber, wie gesagt, ist es nicht.

Oliver Stone: „Night dream“. Roman. Deutsch von Klaus Fröba. Kindler Verlag, München 1998, 336 Seiten, 39,90 DM