From Outer Space

Salman Rushdie als Mystipopper: Sein Jugendwerk „Grimus“ wurde jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt  ■ Von Thomas Wörtche

In den 60er Jahren entdeckte eine ganze Reihe vornehmlich britischer und vereinzelt amerikanischer „Science Fiction“-Autoren den „inner space“ als großes Thema. Der „outer space“ war zwar als Motiv immer präsent, aber die Reise ging deutlich nach innen. New Wave nannte man damals diese Bewegung. James Graham Ballard, einer der Köpfe dieser lose assoziierten Gruppe (zu der Leute wie Michael Moorcock, Brian W. Aldiss, Thomas M. Disch, James Sallis, John Sladek oder Maxim Jakubowski gehörten), definierte 1969 in einem langen Interview mit der BBC diesen „inner space“ als das „Grenzland zwischen der Außenwelt der Realität auf der einen und der inneren Welt der Psyche auf der anderen Seite“. Bis zur Mitte der 70er Jahre brachte dessen literarische Erforschung eine ganze Reihe experimenteller, ironischer, Dope-induzierter, Pop und Borroughs verpflichteter Texte hervor, mit hohem Prestige und wenigen Lesern. Das änderte sich erst, als Ballard um 1973 herum die neu erprobten Techniken auf Themen aus dem damaligen Hier und Heute anwandte, meist in Gestalt von Sozialsatiren.

1975 erschien der erste Roman eines noch bis 1983 unbekannten Schriftstellers: „Grimus“ von Salman Rushdie, den man jetzt, nach immerhin 23 Jahren, auch auf deutsch lesen kann. Tun wir also mal so, als wüßten wir nichts von den „Mitternachtskindern“, den „Satanischen Versen“ und der ekelhaften Fatwa. Dann wirft der Erstling ungefähr folgendes Bild: „Grimus“ bewegt sich deutlich im Fahrwasser jener New Wave. Ein junges hermaphroditisches Wesen aus „Amerindia“ namens Flapping Eagle, das aus komplizierten Gründen beinahe unsterblich geworden ist, bewegt sich quer durch Raum und Zeit auf die sehr shakespearesche Insel Calf Island außerhalb von Raum und Zeit, um dort in der leicht kafkaesken und schwer Bradburyschen Stadt K in der Konfrontation mit dem Prinzip „Grimus“ sein eigenes Ich (oder Nicht-Ich) zu finden. Und als endlich der „Mann, der einst Flapping Eagle gewesen war, nunmehr teils Eagle, teils Grimus“ geworden ist, löst sich auch Calf Island auf: „Moleküle und Atome“ zerbrechen und verwandeln sich „in ursprüngliche, ungeformte Energie. Das Rohmaterial des Seins holte sich das Seine zurück“.

Das klingt nicht nur nach Mystipop, Hippiekram und aufkommendem New Age-Gewaber, es ist auch welches. Gemäß der New-Wave-Formel sorgt ein Wesen „from outer space“ – ein „Schorf“ namens Koax vom Planeten „Thera“ aus der „Yawy-Klim-Galaxie“, der unter „philosophischer Paranoia“ leidet – für den Zusammenhang mit dem „inner space“, indem es Flapping Eagle ein kräftiges „Dimensionsfieber“ verpaßt. Das darauf folgende „Dimensionschaos“ kann der Hermaphrodit (das Hermaphroditische allerdings kommt Rushdie im Verlauf des Romans ein wenig abhanden) gerade noch vermeiden.

Nur ein leicht ironischer Unterton schützt diese nichtssagende Handlung vor der totalen Läppischkeit; dafür wird aber im Verlauf des Buches Rushdies Kalkül immer deutlicher: Er lädt seine Story „multikulturell“ auf, indem er ihr alle möglichen mythologischen Implantate verpaßt: Fernöstliche und altgermanische, indianische und zentraleuropäische Mythologeme betteln darum, in einschlägigen Kompendien nachgeblättert zu werden. Kein Zweifel, Rushdie war 1975 ein schwer gebildeter junger Mann.

Aber auch einer, der sich in den populären Künsten auskennt. Deswegen treten zwei Westernhelden, The Two Time Kid und Mr. Peckenpaw, auf. Für den Bildungsbürger wird „Yorick, Yorick“ gerufen, und eine Figur heißt, natürlich, Livia. Für den frivolen Aspekt schließlich sorgen eine Reihe von Bordellszenen, die unverhältnismäßig lang sind und die Balance des Textes (so überhaupt vorhanden) empfindlich stören. Verschiebungen der Erzählperspektiven, Wandel der Geschlechtsrollen und ähnlich brechende Verfahren klumpen sich am Anfang des Buches, als ob der Debütant beweisen müßte, daß er sie kennt und kann. Sie schwellen dann vor dem Finale ab, besonders da, wo „Grimus“ über lange Passagen hinweg zu einem erstaunlich piefigen Kleinstadtroman wird.

Mit anderen Worten: „Grimus“ ist ein unentschiedener, mißglückter Erstling, der sich an die trügerische Sicherheit eines verblassenden Musters anhängt und nur zaghaft versucht, eigene Töne anzuschlagen. Ob man Rushdie einen Gefallen tut, diese „Jugendsünde“ wieder hervorzukramen, weiß ich nicht. Philologen mögen ihre Freude daran haben. Thomas Wörtche

Salman Rushdie: „Grimus“. Roman. Aus dem Englischen von Gisela Stege. Kindler Verlag, München 1998, 432 Seiten, 44,90 DM.