Bomben für die Befreiung

Vor Südafrikas Wahrheitskommission beantragen ehemalige Guerillakämpfer des ANC Amnestie für Anschläge in den achtziger Jahren. Aber wie kann einer seine Taten bereuen, der die Geschichte auf seiner Seite weiß?  ■ Aus Pretoria Kordula Doerfler

Der erste Händedruck ist ein Alptraum. Wie lange können Bruchteile von Sekunden sein? Neville Clarence' Rechte zittert ausgestreckt in der Luft. Dann findet sie Halt beim Gegenüber. Abubaker Ismail, so hochgewachsen und hager wie Clarence, nur dunkelhäutiger, sieht ihm in die Augen. „Das ist sehr schwer“, flüstert er. Und dann der erlösende Satz: „Es tut mir sehr leid, was Ihnen geschehen ist“.

Clarence kann Ismail dabei nicht sehen. Er ist seit 15 Jahren blind, die Augen in seinem schmalen Gesicht liegen tief in den Höhlen. Verantwortlich dafür ist Abubaker Ismail. Die beiden Männer, Opfer und Täter, begegnen sich zum ersten Mal.

Wenn überhaupt möglich, ist das Opfer ungleich entspannter. „Ich war auch neugierig“, sagt Clarence später freimütig. Und: „Ich wollte den Mann sehen, der damals mein Todfeind war.“ Rachegefühle, so versichert er, hegt er nicht. Man glaubt es ihm. So spricht nur einer, der seinen Frieden gemacht hat mit der Vergangenheit.

Clarence ist ein weißer Südafrikaner, der dem Apartheid-Regime diente. Damals, am 20. Mai 1983, saß er mit zwei Kollegen im Auto vor dem Hauptquartier der südafrikanischen Luftwaffe in der Church Street in der Hauptstadt Pretoria. Arbeitsrechtlich betrachtet war er an jenem Spätnachmittag schon außer Dienst. Die Bombe, die kurz nach Dienstschluß detonierte, traf ihn, 22 Jahre jung, trotzdem. 19 Menschen kamen bei dem Angriff des ANC ums Leben, fast 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Elf der Toten waren Kollegen von Clarence aus der Luftwaffe, zwei waren ANC- Guerillas, der Rest Zivilisten.

Der Mann, der alles plante, galt dem Apartheid-Regime als einer seiner Todfeinde: Abubaker Ismail, Deckname „Rashid“, Chef einer Sondereinheit der Befreiungsarmee „Umkhonto weSizwe“ (Speer der Nation; MK). Jetzt, 15 Jahre später, übernimmt Ismail Verantwortung. Für insgesamt 13 Anschläge beantragen er und einige seiner Untergebenen von damals Amnestie vor Südafrikas Wahrheitskommission – die Institution, die von Amts wegen die Vergangenheit Südafrikas aufarbeiten und sich mit schweren Menschenrechtsverletzungen befassen soll.

Oft ist dem Gremium unter Erzbischof Desmond Tutu Einseitigkeit vorgeworfen worden, allzu viel Sympathie für die Taten der Befreiungsbewegungen. Auch Tutu selbst gibt freimütig zu, moralisch einen Unterschied zu machen zwischen Verbrechen, die im Namen des Regimes und denen, die im Namen der Befreiung begangen wurden. Vor dem Gesetz, vor der Kommission aber, das betont auch Tutu, darf diese Trennlinie nicht gelten. Entscheidend ist, ob eine Menschenrechtsverletzung politisch motiviert war und ob die Täter ein volles Geständnis ablegen.

Anhörungen wie die der ANC- Kader in Pretoria hat es während der mehr als zweijährigen Tätigkeit der Kommission nicht viele gegeben. Um so größere symbolische Bedeutung haben sie, sind doch Täter und Opfer hier verkehrt. Meist waren bisher die Täter in den Reihen des Regimes zu suchen und versuchten, bereits verhängten Haftstrafen zu entgehen, indem sie ihre Taten öffentlich zugaben. Bei den ANC-„Meisterbombern“, wie sie im Volksmund genannt werden, liegt die Sache anders. Kaum einem von ihnen droht ernsthaft eine Anklage, und die Sympathie der schwarzen Mehrheit ist ihnen sicher – bis hinauf in die Regierung. Dort sitzen heute manche, die damals, im bewaffneten Kampf, vom Exil aus die Befehle erteilten: Verteidigungsminister Joe Modise zum Beispiel oder Verkehrsminister MacMaharaj.

Daß die Amnestieregelungen auch für die Befreiungskämpfer gelten, wollten viele von ihnen zunächst nicht einsehen. Selbst Präsident Nelson Mandela ist überzeugt davon, daß der Zweck die Mittel geheiligt hat. Nur weil Kommissionschef Erzbischof Tutu mit seinem Rücktritt drohte, beantragte die ANC-Spitze Amnestie – kollektiv. Das verstößt zwar gegen das Gesetz, ist aber immer noch weit mehr, als man von den politisch Verantwortlichen aus den Reihen der alten Machthaber sagen kann.

„Ich bedaure den Tod von unschuldigen Zivilisten im Kampf für Gerechtigkeit und Freiheit“, sagt nun der Mann, den die meisten Südafrikaner bisher nur als „Rashid“ kennen. Das ist kaum mehr als eine Floskel und doch so schwer für einen wie ihn, der die historische Moral auf seiner Seite hat.

Erstmals tritt der legendenumwobene Guerilla an die Öffentlichkeit. Er spricht leise, aber deutlich. Manche würden seine Selbstsicherheit Arroganz nennen. Sieht so ein „Terrorist“ aus? Der „Meisterbomber“ könnte auch Berater eines Ministers oder leitender Angestellter sein. Irritiert zieht er die Augenbrauen hoch, wenn ihm die gegnerische Seite unbotmäßige Fragen stellt. Ein Affront, daß einer wie er sich überhaupt dieser Prozedur unterziehen muß?

Wer sein Leben wie er in den Dienst der guten Sache gestellt hat, hat kein Privatleben und keine privaten Gefühle. Besuche von neugierigen Journalisten bei ihm zu Hause wehrt Ismail ab. Auch im Büro hat er sie nicht gern. Das demokratische Südafrika dankte ihm für seine Verdienste mit einem Posten im Verteidigungsministerium. Anzug, Krawatte, ein dicker Aktenkoffer sind jetzt die Attribute derer, die nach der Befreiung der guten Sache dienen.

Ismails politische Sozialisation begann früh. Als er sieben Jahre alt war, nahm ihm sein Vater Süßigkeiten ab, die er aus der Schule mitgebracht hatte, und eine südafrikanische Flagge dazu. Der Apartheid-Staat feierte am „Republic Day“ 1961 seinen Austritt aus Commonwealth. In der Siedlung nur für Südafrikaner indischer Herkunft in Johannesburg war das kein Grund zum Feiern. „Mein Vater sagte zu uns, daß jetzt Schluß sei mit dem Fahnenschwenken für ein rassistisches Regime.“

Der Rassendoktrin folgend, durfte Ismail nur an einer Universität für Inder und Farbige studieren. 1974 hatte er genug von den Schikanen und schloß sich dem ANC an. Es folgte eine revolutionäre Musterkarriere: Untergrund, Exil, militärische Ausbildung in der DDR und Angola, Chef einer 1979 gegründeten Spezialeinheit der Untergrundarmee. Privatleben? Eine Leerstelle bei vielen Freiheitskämpfern. Innerhalb Südafrikas waren sie im Untergrund, auf Schritt und Tritt überwacht und gejagt, außerhalb lebte man in paramilitärischen Camps oder in Kadergruppen mit straffer Führung.

Seit Anfang der 80er Jahre schlug die Befreiungsbewegung gegen den weißen Terror zurück. „Rashid“ war einer der Hauptverantwortlichen für eine Reihe von Anschlägen, die das Regime das Fürchten lehrten und es in seinem Glauben bestätigte, daß die verhaßten Kommunisten mit dem Teufel im Bunde standen. Dabei ging oft einiges schief. Die Bombe in der Church Street etwa zündete zu früh.

Für das weiße Südafrika indessen war das Attentat ein psychologischer Wendepunkt: „Der Feind“ war zu allem fähig und schreckte auch nicht davor zurück, wehrlose Zivilisten umzubringen. Daß die weiße Minderheitsregierung dies täglich tat, wurde dabei verdrängt. Zudem, und das wog vielleicht noch schwerer, zeigte es die eigene Verletztlichkeit. Trotz strengster Sicherheitsvorkehrungen waren die Schaltstellen der Macht offensichtlich angreifbar.

„Wir wollten zeigen, daß nicht nur die MK-Soldaten bluteten“, sagt Abubaker Ismail im Kreuzverhör. „Nur, wenn wir ihren weichen Unterleib trafen, konnten wir die Apartheid-Kriegsmaschinerie schwächen.“ Die blumige Metapher verweist auf einen Wendepunkt in der Strategie des ANC. 1960, nach dessen Verbot, hatte Nelson Mandela zum bewaffneten Kampf aufgerufen. Getroffen werden sollten vor allem die Sicherheitskräfte, auf keinen Fall aber Zivilisten. „Es wäre ein leichtes gewesen, Bomben auf öffentlichen Plätzen zu installieren“, rechtfertigt Rashid die eigene Linie. Selbst die Anwälte der gegnerischen Seite nicken zustimmend.

Ismail räumt ein, daß der mögliche Tod von Zivilisten in der Church Street vorher erörtert wurde. Hatte aber nicht kurz zuvor das Regime 42 unschuldige Zivilisten im Nachbarland Lesotho umbringen lassen, die unter dem Verdacht standen, dem ANC nahe zu stehen? Und hatte es nicht die Frau von Joe Slovo, dem damaligen MK-Chef, in Mosambik mit einer Briefbombe ermordet? Und häuften sich nicht die Angriffe auf Zivilisten innerhalb Südafrikas, weil der ANC angeblich die Bevölkerung unterwanderte? Oliver Tambo, damals Chef des verbannten ANC im sambischen Lusaka, entschied, daß es dann gerechtfertigt sei, Angriffe auf „überwiegend“ militärische Ziele zu planen.

„Wir bedauern den Tod von Unschuldigen“, sagt auch Mohammed Iqbal Shaik leise. Das öffentliche Sprechen fällt ihm noch schwerer als Ismail. Auch Shaik beantragt Amnestie für seine Taten. Die Befehle dazu erhielt er von Ismail, seinem Vorgesetzten. Er selbst gilt als einer der effektivsten Guerillakämpfer der 80er Jahre. An 31 Anschlägen war er beteiligt. „Wir waren keine Terroristen“, sagt der heute 39jährige. „Wir waren Soldaten in einem Krieg.“

Hier und nur hier trifft sich das Weltbild der Befreier mit dem der Unterdrücker. Auch die weißen Sicherheitskräfte wähnten sich während der 80er Jahre in einem Krieg – gegen den internationalen Kommunismus. Daß ihre Sache gerecht war, davon sind beide Seiten bis heute überzeugt.

Als „Terrorist“ bezeichnet zu werden ist für einen wie Shaik eine Beleidigung. Nach der Befreiung hatte er weniger Glück als manche seiner einstigen Vorgesetzten. Mit einem „privaten Unternehmen“ kämpft er ums Überleben, denn einen zivilen Beruf hat er nie gelernt. Genaueres will er nicht preisgeben. Man weiß nie, was noch passieren kann. Viele alte Rechnungen sind noch offen. Eine Anklage wäre allerdings auch bei Shaik unwahrscheinlich. „Wir beantragen Amnestie im Geiste der Versöhnung“, sagt er pflichtgemäß. Verkehrsminister MacMaharaj schüttelt ihm und anderen Antragstellern in der Pause persönlich die Hand. Man kennt sich natürlich, und die ANC-Spitze muß in politisch bedeutsamen Anhörungen wie diesen Präsenz zeigen.

Deren Ausgang ist so gut wie sicher. Es besteht kein Zweifel, daß die „Meisterbomber“ am Ende amnestiert werden. Neville Clarence wäre damit einverstanden. „Ich hege keinen Groll mehr“, sagt er. „Versöhnung muß von beiden Seiten kommen.“

Es sind diese Momente, die die Anhörungen der Wahrheitskommission auch noch nach zwei Jahren, trotz aller Ritualisierung und Schwächen, bewegend machen. Dabei hätte der Mann, der heute Software speziell für Blinde verkauft, allen Grund, verbittert zu sein. Weder die alten noch die neuen Regierenden in Südafrika wollten ihm eine Entschädigung zahlen. Selbst ein Gesuch an Nelson Mandela persönlich brachte nichts. Alle einschlägigen Akten sind verschwunden.

Die, denen Clarence einst gedient hat, hatten sich schon vor der politischen Wende für nicht zuständig erklärt. Schließlich war die Autobombe in der Church Street nach Dienstschluß explodiert.