Pleite für Rußlands Kommunisten

■ 40 Millionen Menschen wollte die Kommunistische Partei gemeinsam mit den Gewerkschaften für ihren Protesttag gegen Präsident Jelzin und die Verarmung in Rußland mobilisieren, doch nur etwa eine Million kamen

Moskau (taz) – Rund eine Million Demonstranten nahmen gestern in Rußland an einem landesweiten Streik teil, den Gewerkschaften und kommunistische Opposition seit Monaten vorbereitet hatten. Arbeiter, Beamte, Rentner und Studenten von Moskau bis Wladiwostok forderten die notorisch säumige Regierung auf, endlich die seit Monaten ausstehenden Löhne, Renten und Stipendien auszuzahlen. Gewerkschaften und Kommunisten verlangten zudem, Präsident Jelzin möge sein Amt räumen und den Weg zu Neuwahlen freigeben.

Im Vorfeld des Aktionstages hatten die Veranstalter unterdessen mit einer vielfach höheren Beteiligung gerechnet. Die Gewerkschaften sprachen von 25 Millionen Demonstranten, während die Kommunisten sogar 40 Millionen erwarteten. Statt dessen nahmen in Moskau lediglich rund 100.000 Menschen an den Demonstrationen teil. Landesweit dürften knapp eine Million Menschen dem Aufruf der Veranstalter gefolgt sein. Allerdings differierten die Zahlen erheblich.

„Wir wollen nicht zurück zum Kommunismus, aber wir wollen auch nicht Jelzins Politik“, rief der Moskauer Bezirksleiter des Gewerkschaftsbundes, Wladimir Porutschikow, der Menge zu. Insbesondere ältere Demonstranten hielten Bilder Josef Stalins in die Höhe. Selbst ein Bild des kambodschanischen Diktators Pol Pot war in der Menge auszumachen. Darauf stand geschrieben: „Nur ein toter Bourgeois ist ein guter Bourgeois.“

In Moskau versammelte sich die Mehrheit hinter den blauen Fahnen der freien unabhängigen Gewerkschaften, die sich erst in letzter Minute auf einen gemeinsamen Demonstrationszug mit der Kommunistischen Partei einigen konnten. Im Unterschied zu den Kommunisten, die im Parlament die Mehrheit stellen, forderten die Gewerkschaften auch die Auflösung der Duma.

Die magere Beteiligung bei strahlendem Sonnenschein hat sicherlich mit der geringen Hoffnung der Russen zu tun, durch Proteste etwas ausrichten zu können. Da die Regierung erst vor kurzem unter dem neuen Premier Jewgenij Primakow gebildet worden ist, entfiel auch der eigentliche Adressat des Protestes. Viele unzufriedene Bürger dürfte zudem die Führungsrolle der Kommunistischen Partei von einer Teilnahme abgehalten haben.

Premier Primakow hatte noch am Vorabend in einer Fernsehansprache seinen Landsleuten zu verstehen gegeben, daß er für ihren Groll durchaus Verständnis habe, und bat sie, es nicht zu Ausschreitungen kommen zu lassen. In Moskau hatten mehrere tausend Sicherheitskräfte die Organisation denn auch voll im Griff. Aus anderen Landesteilen wurden ebenfalls keine Ausschreitungen gemeldet.

In Moskaus Innenstadt hatten Besitzer von Luxusläden vorsichtshalber ihre Geschäfte den ganzen Tag geschlossen. Stellten bei früheren Protesten vornehmlich die hartgesottenen Demonstranten des rot- braunen Spektrums die Mehrheit, so waren diesmal Leute auf der Straße, denen es nicht um einen politischen Richtungsstreit geht. Der Gouverneur von Krasnojarsk, Alexander Lebed, meinte dazu: „Man kann die Tatsache nicht leugnen, daß so viele verschiedene Gruppen und Schichten teilnehmen. Das bedeutet unweigerlich, wir haben einen Endpunkt erreicht.“ In Krasnojarsk nahmen rund 5.000 Menschen an der von Lebed geführten Demonstration teil. Klaus-Helge Donath

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