Liberal statt radikal

Das „Projekt Absolute Mehrheit“ wandelt sich: Statt die FDP zu übernehmen, treten jetzt einige den Jungen Liberalen bei. Nur eine kleine Gruppe will noch einen FDP-Vorstand abwählen

Das Café „Sinnlos“, Prenzlauer Berg, ist am frühen Nachmittag noch nicht so gut besucht. Auch für das Bezirkstreffen des „Projekts Absolute Mehrheit“ genügt ein längerer Tisch, an dem rund fünfzehn Studenten sitzen. „Das Projekt ist etwas zerfranst“, sagt Martin Siebert, Informatik- und Geschichtsstudent an der Humboldt- Universität (HU). Zusammen mit Carolin Just, Lehramtsstudentin in Mathe und Deutsch an der Technischen Universität, will er wieder einige Leute zusammentrommeln. Ein paar Plaudertreffs beim Bier sollen den Zusammenhalt unter den Studenten etwas aufpäppeln, an den Kneipentischen soll wieder über Politik geredet werden, über das Hochschulsystem, ein Semesterticket und die Legalisierung von Marihuana.

Zum vergangenen Jahreswechsel, der Zeit des Studentenstreiks, wurde das „Projekt Absolute Mehrheit“ (PAM) aus der Taufe gehoben. Studenten wollten selbst in der Politik mitmischen, nachdem sie erlebt hatten, daß Bundes- und Landespolitik die Protestbewegung auszusitzen versuchten. Sie entschlossen sich, der kränkelnden FDP beizutreten, die Vorstände per Abwahl zu beseitigen und eigene Interessen zu verwirklichen. Die „Parteipiraten“ waren damals in aller Munde. Inzwischen befinden sich bundesweit rund neunhundert von ihnen in der FDP-Mitgliederkartei. Abgewählt haben sie bisher niemanden.

Statt dessen treten jetzt dreißig der aktivsten Berliner PAM-Mitglieder den Jungen Liberalen bei. „Ich bin in der FDP, ich bin jung – warum soll ich da nicht den Julis beitreten?“ fragt Dorjee Hegel, einer der Wortführer bei PAM Berlin. „Sie haben gute Inhalte, haben Anträge gegen die Bannmeile im Regierungsbezirk und gegen die allgemeine Wehrpflicht eingebracht.“

PAM Berlin ist gerade in ein neues Büro eingezogen – in das Büro der „Liberalen Hochschulgruppe“. An der Wand hängt ein Plakat mit dem Slogan „Liberal statt radikal“. „In der Partei wollen wir das politische Handwerk erlernen“, sagt Lukasz Pekacki, der auch bei PAM Berlin aktiv ist. „Beim Versuch, bestehende Gremien abzuwählen, macht man sich doch nur Feinde.“

Die Leute vom PAM Berlin schauen sich vorsichtig auf Parteitagen und lokalen Treffen der FDP um. „Dort gibt es immer etwas zu essen“, feixt Florian Kölln, Ansprechpartner für PAM in Berlin- Kreuzberg. „Und nach einem halben Jahr kennt man dann auch die Leute in der Partei“, fügt Hegel hinzu.

Inhaltlich will sich PAM auf kein Thema festlegen lassen. „Wir sind für vieles offen“, sagt Hegel, „ich zum Beispiel will bei den Julis Anträge zum öffentlichen Nahverkehr und zu einer Gesundheitsabgabe für Raucher einbringen.“ Auf der Homepage von PAM Berlin wird ein dreiseitiger Vorschlag eines Kölner Studenten zur Privatisierung der Hochschulen diskutiert. Teilsubventionierte Universitäten sollen sich unter anderem über Studiengebühren finanzieren. Studenten können für die Dauer ihres Studiums ein mit einer Versicherung kombiniertes Darlehen aufnehmen, das nach dem Ende des Studiums zurückgezahlt werden muß. Hat der Absolvent kein Geld und keinen Job, springt die Versicherung ein. „Chancengerechtigkeit und das Recht auf Bildung für jeden müssen gewährleistet sein“, sagt Hegel. „Darüber hinaus gilt das Effizienzprinzip.“

„Wir sehen die Studenten als Chance für unsere Partei“, sagt Hans-Jürgen Beerfeltz, Bundesgeschäftsführer der FDP. „Als uns klar wurde, daß wir es mit keinem Politblock ausgebildeter Komsomolzen zu tun hatten, haben wir die anfangs skeptischen Ortsverbände ermuntert, keine Scheu zu zeigen.“ Noch im Mai dieses Jahres dagegen schickte er selbst einen skeptischen Rundbrief an die Kreisvorsitzenden hinaus, in dem er auf die Möglichkeit hinwies, Aufnahmeanträge ohne Angabe von Gründen abzulehnen. Andererseits, so hieß es, biete sich bei dieser Gelegenheit die Werbung von Mitgliedern an, die sich inhaltlich zu FDP-Zielen bekennen würden. Heute ist Beerfeltz viel furchtloser: „Wir verfolgen jetzt einen integrativen Ansatz.“

„Meine Parteifreunde haben ihre Einstellung gegenüber einzelnen Studenten geändert“, erzählt Alexander Fritsch. Er ist Wahlkampfkoordinator der Berliner FDP und Vorstandsmitglied im Ortsverband Neukölln, der mehrheitlich eine pauschale Ablehnung aller PAM-Aufnahmeanträge beschloß. Von PAM wird Fritsch dem rechten Parteiflügel zugeordnet. „Ich verstehe jedes Parteimitglied, dem eine Übernahme der Partei suspekt erscheint. Aber die meisten Studenten, die ich persönlich kennengelernt habe“, sagt er, „waren mit dem politischen Leben unzufrieden und wollten sich engagieren. Das ist auch der Grund, warum ich einst in die Politik gegangen bin.“ Die FDP hat mit der Taktik des gezielten Aussuchens und Umarmens Erfolg. Der größte Teil des „Projekts Absolute Mehrheit“ ist inzwischen erstaunlich liberal geworden.

So richtig liberal engagiert, aber trotzdem irgendwie sympathisch ist Wolfgang Sinn, Medizinstudent und PAM-Mitglied in Dahlem. „Logisch“, grinst er, „die Partei braucht die jungen Leute wie Dracula das Blut“. In seinem Kreis hatte von Anfang an niemand die Partei kaputtmachen wollen, beteuert er. Inzwischen ist er froh, bei PAM eine interessante Beschäftigung gefunden zu haben. „Liberale Gedanken stehen mir nah, und PAM hat mein Leben interessanter gemacht“, sagt er. Mit der Idee eines starken Staats kann er sich nicht anfreunden, trotzdem lebt für ihn Politik im kleinen, sie soll sich um die Bürger kümmern. Die Ampel in der Clayallee, die nur so kurz auf Grün steht, daß es eine Oma bestimmt nicht über die Straße schafft, ist für ihn so eine politische Frage. Fleißig diskutiert er in den Emailforen von PAM und der FDP über Nahverkehrskonzepte oder über ein Verbot öffentlicher Zigarettenwerbung.

André Lange, Jurastudent an der Freien Universität, findet PAM inzwischen nicht mehr so toll. „Die meisten von denen werden doch irgendwann ganz normale FDP-Mitglieder und haben dann dort ihre Zukunft“, kritisiert er. Für seine Entscheidung, den Grünen beizutreten, hätte PAM allerdings eine Rolle gespielt: „Ich habe gesehen, wie einfach das ist, in einer Partei zu sein.“

„Klar, der Gedanken einer Parteiübernahme war irgendwie nicht richtig zu Ende gedacht“, sagt Martin Siebert von PAM Prenzlauer Berg. „Wir haben viel Arbeit in die Idee gesteckt und sind über den Tisch gezogen worden“, ergänzt Carolin Just. „Der größte Fehler war es, daß zu viele Kompromisse gemacht wurden“, sagt sie. Und: „Mit PAM hatten wir die Chance, sofort etwas zu erreichen außer buntem Tralala auf Demonstrationen und im Studentenstreik.“ Noch haben die beiden nicht ganz aufgegeben: Sie planen die Abwahl des FDP-Kreisvorstandes für nächsten Januar. Christian Domnitz