■ Auch Tony Blairs Labour-Regierung klammert sich an eine überkommene staatliche Geheimhaltungspolitik
: „Wen kümmert's, außer ein paar Mittelklassewichser?“

Für eine Partei, die alle bourgeoisen Vorurteile gegen sie aalglatt zu umschiffen weiß, hat sich New Labour die Fähigkeit bewahrt, ihre Kritiker mit der Entgegnung, „prolliger als sie“ zu sein, aus dem Konzept zu bringen. So verurteilt sie beispielsweise das Vorhaben, aus den Untertanen der Queen Bürger werden zu lassen, die das Recht haben zu erfahren, was in ihrem Namen mit ihrem Geld angestellt wird – in einer Sprache, die in der schlechten alten Zeit Sozialneid hieß. Der freie Zugang zu Daten und Informationen beschäftige lediglich die elitären Hirne der „schwätzenden Klassen“, so der neue Politik-Koordinator, Jack Cunningham. Nur Chianti-Trinker in ihren toskanischen Ferienvillas interessiere das überhaupt, teilte ein New-Labour-Abgeordneter der Financial Times anonym mit. Und „Wen kümmert das schon, außer ein paar Mittelklassewichser?“, fragte Alastair Campbell, eloquenter Sprecher des Premiers.

Im März 1996, ein Jahr vor seiner Wahl zum Parteivorsitzenden, war allerdings Tony Blair höchstselbst der mutigste Wichser der Mittelklasse. Da erklärte er, daß ein „Freedom of Information Act“ für die zukünftige Labour-Regierung nicht nur Priorität habe, sondern „einen Wechsel [bedeutet], der absolut fundamental für unsere Sicht der politischen Entwicklung in diesem Land“ ist. Die Abschaffung der offiziellen Geheimhaltungspolitik würde „desillusionierte“ Wähler dazu bewegen, ihm ihr Vertrauen zu schenken und ihrer „Enttäuschung“ über Politiker ein Ende machen. New Labour würde die staatliche Zensur beenden, da die Partei ein Interesse an „genuinen Veränderungen der politischen Beziehungen“ habe.

Vertrauen war damals Blairs Schlüsselwort. Nach vier Wahlniederlagen sollte das Wahlvolk darauf vertrauen, daß er die Steuer- und Haushaltspolitik der Konservativen nicht verändern würde. Und nachdem der unglückselige John Major in Skandalen versunken war, sollten die Wähler New Labour auch für ehrlicher, sauberer und vor allem offener halten. Wer Blairs Anpassung an den Thatcherismus unerträglich fand, tröstete sich damit, daß die neue Regierung wenigstens die längst überfällige Aufgabe angehen würde, die Mechanismen eines imperialen Staates öffentlich zu machen, der verbissen daran festhielt, seine widerspenstigen Untertanen im Dunkeln tappen zu lassen.

Tony Blair schien den kolonialen Gestus der Bürokraten von Whitehall gegenüber dem – wenn auch nicht juristisch – souveränen Volk durchaus zu begreifen. In seiner Rede vor Verfassungsreformern sagte er, die Geheimhaltungspolitik sei schon seit fünfzig Jahren überholt und eine Zumutung für die zunehmend gebildete Bevölkerung. Der junge Politiker einer neuen Zeit versprach, sie aufzugeben und eine Politik zu machen, die „die Erwartungen des Volkes“ nach einer „offeneren und effizienteren Regierung“ erfüllt.

Im Sommer 1998, fünfzehn Monate nach dem Machtwechsel, ist die Chance auf ein schnelles „Freedom of Information“- Gesetz drastisch gesunken. Zwar könnte es durchaus eine Gesetzesvorlage mit den drei Worten im Titel geben, aber in Wahrheit bliebe der Geheimhaltungskult weiter unangetastet. Zyniker glauben, daß keine Partei, die Freud und Leid des Amtes gekostet hat, freiwillig Regierungsdokumente zugänglich macht, die bis dahin straflos geheimgehalten werden konnten.

Im gleichen Monat, in dem Blair seine leidenschaftliche Rede hielt, schlug Peter Mandelson auf einem Seminar der „Campaign for Freedom of Information“ schon andere Töne an. So ein Gesetz müsse „möglicherweise warten“. Er sei „äußerst vorsichtig“, etwa Beratungspapiere von Staatssekretären an ihre Minister veröffentlichungspflichtig zu machen. Die beste Antwort auf die Forderung nach Transparenz seien gute Politiker – und Gesetze kein Ersatz für „integre und offene“ Minister.

Besser hätte man die paternalistische Haltung des alten Establishments nicht ausdrücken können. Das System, so Mandelson implizit, funktioniere gut. Kritik solle man gegen einzelne faule Äpfel richten. Seine gut kalkulierten Winkelzüge setzten sich in der Regierung fort: Beamtete Experten in Whitehall wurden durch Sonderberater ersetzt, deren einzige Qualifikation darin besteht, die Stimme ihrer Herren zu sein; Zeitungen wurde Druck gemacht, „wenig hilfreiche“ Journalisten zu entlassen; politische Diskussionen im Kabinett sind passé, eine durchschnittliche Kabinettssitzung dauert nur wenig länger als eine Fernseh-Sitcom; und wer mit der Partei nicht übereinstimmt, verliert seinen Wahlkreis.

Bei der Regierungsumbildung im Sommer wurde der für das „Freedom of Information“-Gesetz zuständige Staatssekretär David Clark entlassen. Er glaubt, daß die liberale Position, die er gegenüber Mandelson verteidigte, seiner Karriere nicht sehr förderlich war. Bevor er abgesägt wurde, konnte er noch ein Weißpapier vorlegen, das allerdings gravierende Mängel hatte. So bestand Innenminister Jack Straw darauf, daß Basisdaten der Polizeiarbeit – wie viele Beamte bei Fußballspielen eingesetzt waren etc. – auch weiterhin Amtsgeheimnis bleiben. „Veröffentlichte man solche Daten, käme das nur den Kriminellen zugute“, erklärte Straw allen Ernstes vor Abgeordneten. Selbst in den straffreudigen USA sind solche Informationen frei zugänglich.

Straw gab zu, daß sein Amt einen Zwiespalt bezüglich der Freigabe von Daten in ihm ausgelöst habe. „Das Innenministerium beschäftigt sich mit sehr heiklen Dingen. Recht und Gesetz. Nationale Sicherheit. 63.000 Menschen in Gefängnissen, in denen sie nicht sein wollen.“ Er habe mit „wirklichen Geheimnissen“ zu tun. Doch ausgerechnet Straw wurde nach Clarks Entlassung damit beauftragt, den Gesetzentwurf zum freien Informationszugang vorzubereiten. So wird also das Machogehabe dieses Hardliners von Westminster darüber entscheiden, wieviel Freiheit von Staats wegen erlaubt ist. Damit blieben Clarks kleine Fortschritte auf der Strecke.

So schlug Clark vor, daß – außerhalb der Polizeiarbeit – Informationen nur dann zensiert werden dürften, wenn die Beamten bewiesen, daß ihre Freigabe „wesentlichen Schaden“ anrichten könne. Straw dagegen zieht die gesetzliche Regelung des „einfachen Schadenstests“ vor. Der erlaubt es, Dokumente zurückzuhalten, die „irgendwann möglicherweise“ Schaden erzeugen. Seine ganze Subtilität wurde deutlich, als sich das Gesundheitsministerium kürzlich weigerte, einem Bürger die „Richtlinien zur Bemessung von Behindertenfördergeldern“ auszuhändigen. Die Broschüre war als „geheim“ klassifiziert, obwohl sie ursprünglich für den Kioskverkauf vorgesehen war. Diese Kultur, die Straw offenbar verteidigen will, verstärkt die staatliche Tendenz, in Fragestellern Querulanten oder potentielle Überwachungsziele zu sehen.

Zur Zeit scheint es, als könne sich New Labour noch fast alles erlauben. Die Opposition ist zahnlos, die Presse träge. Eine „Freedom of Information“-Gesetzesvorlage wird wohl frühestens 1999 eingebracht. Diese Regierung hat schnell den Ruf erworben, ein Haufen von Moglern, Marketing-Typen und Manipulatoren zu sein, denen man nicht trauen kann. Nur ein echtes „Freedom of Information“-Gesetz könnte diesen fatalen Ruf korrigieren.

Das blinde Versagen der Regierung zeigt derweil, daß die viktorianische Angst vor den Folgen der Onanie vielleicht doch kein reiner Aberglaube war. Nick Cohen

Nick Cohen ist Kolumnist des „Observer“