Computer auf flüssiger Basis

Im Quantenrechner werden Siliziumchips nicht mehr benötigt. Gerechnet wird mit subatomaren Teilchen Von Wolfgang Löhr

Noch schneller, noch kleiner und immer größere Speicherkapazitäten. Das scheint das einzige Motto zu sein, dem sich die Entwicklungsabteilungen der Computerindustrie verschrieben haben. Seit gut fünfzig Jahren wird alle zwei, drei Jahre die Rechenleistung der Computerchips verdoppelt. Das kann zwar – auch mit herkömmlichen Technologien – noch eine Zeitlang so weitergehen. Doch es ist abzusehen, daß die Miniaturisierung der Siliziumchips in nicht zu ferner Zukunft endgültig an ihre physikalischen Grenzen stößt. Lediglich ein zwanzigtausendstel Millimeter dick sind die Leitbahnen in den neuesten Computerchips. Um die ständig kleiner werdenden Strukturen in den Chips unterzubringen, muß ein immer höherer Aufwand betrieben werden. Und zu dicht beieinander dürfen die Leiterbahnen auch nicht liegen, ansonsten springen die Elektronen einfach auf die benachbarten Bahnen über. „In zwanzig Jahren erreichen wir beim gegenwärtigen Miniaturisierungstempo den atomaren Maßstab“, sagt der Computerexperte Seth Lloyd vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston. Doch schon weit vor dieser absoluten Grenze wäre die Herstellung derart kleinteiliger Mikrochips nicht mehr zu bezahlen. Als möglicher Ausweg wird seit längerem schon ein gänzlich neues Rechnerprinzip angesehen: der Quantencomputer.

Noch ist der Quantencomputer ein Traum einer kleinen, aber stetig wachsenden Gruppe von Informatikern, Physikern und Mathematikern. Sie sind davon überzeugt, daß Quantencomputer eines Tages die Informatik grundlegend verändern werden. Sie sollen nicht nur mehr leisten als heutige Computer. Sie werden auch Aufgaben lösen können, die mit der heutigen Technologie nicht bearbeitet werden können. „Eine 400stellige Zahl in ihre beiden Primfaktoren zu zerlegen würde selbst die schnellsten Supercomputer mehrere Milliarden Jahre kosten“, erläuterten Neil Gershenfeld, Physikprofessor am MIT, und sein Kollege Isaac Chuang von der IBM-Forschungsgruppe Quantencomputer im kalifornischen San Jose in dem Magazin Spektrum der Wissenschaften. Die beiden Experten sind überzeugt, daß Quantencomputer diese Aufgabe „in etwa einem Jahr bewältigen“ könnten.

Der entscheidende Vorteil von Quantencomputern liegt in der Darstellung und Verarbeitung der kleinsten Informationseinheiten, den Bits. In herkömmlichen Rechnern erfolgt die Informationsverarbeitung mit elektronischen Bauteilen, die nur zwei Zustände annehmen können, ausgedrückt in 0 und 1. Ein „Wort“ aus acht Bits etwa besteht aus einer Folge von acht Nullen oder Einsen. Auch bei einem Quantencomputer erfolgt die Ein- und Ausgabe in Nullen und Einsen. Nur werden diese von Teilchen verarbeitet, die kleiner sind als Atome.

Bekannt ist aus der Quantenphysik, daß subatomare Partikel wie Elektronen oder Photonen zwei Zustände gleichzeitig einnehmen können. Ein Elektron kann zum Beispiel zugleich auf der innersten als auch auf der nächsthöheren Bahn um einen Atomkern kreisen. Ähnlich wie bei einem Lichtphoton, das gleichzeitig die Eigenschaften einer Welle und eines Teilchens besitzt, ist nach der Heisenbergschen „Unschärferelation“ der Energiezustand eines Elektrons nicht eindeutig zu bestimmen. Die Position des Elektrons kann nur mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitswert angegeben werden. Der Oxforder Physiker David Deutsch erkannte bereits 1985, daß diese Überlagerungen, auch Superpositionen genannt, die Computerwelt revolutionieren können.

Während dem klassischen Bit nur die eindeutigen Werte 0 oder 1 zugewiesen werden können, kann ein Quantenbit, auch Qubit genannt, beide Werte gleichzeitig haben. So können vier „normale“ Bits nur eine einzige Zahl – zum Beispiel 0101 – von sechzehn möglichen Zahlen speichern. Vier Qubits dagegen können alle sechzehn Zahlen gleichzeitig darstellen.

Die enorme Speicherfähigkeit des Quantencomputers wird deutlich, wenn die Reihe fortgesetzt wird: Mit acht normalen Bits kann eine von 256 Zahlen angegeben werden. Acht Qubits hingegen enthalten alle Zahlen. Auf eine allgemeine Formel gebracht, bedeutet dies, daß zur Beschreibung von n Qubits 2n Zahlen notwendig sind. Mit fünfzig Qubits, so rechnet der IBM-Foscher Gershenfeld vor, könne „man bereits ungefähr 1015“ Zahlen speichern. Um sie in einem herkömmlichen Computer abzulegen, wären zehn Millionen Festplatten mit einer Speicherkapazität von je einem Gigabyte notwendig.

Neuen Auftrieb bekam die Idee von dem Quantencomputer vor allem 1994, als Peter Shor vom Forschungslabor der US- Telefonkonzerns AT & T ein Programm entwickelte, mit dem zukünftige Quantencomputer in Rekordzeit Zahlen mit Hunderten von Ziffern in ihre Primfaktoren zerlegen können. Für seinen Algorithmus wurde Shor vor wenigen Wochen auf dem Internationalen Mathematiker Kongreß in Berlin mit dem höchstangesehen Preis für mathematische Foschungen ausgezeichnet. Der Quantencomputer gibt mit Shors Programm das richtige Ergebnis zwar auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit an. Durch Wiederholungen des Rechenprogramms kann der Fehler aber beliebig minimiert werden.

Bisher gibt es nur primitive Prototypen der neuen Superrechner. Im wesentlichen verfolgen die Wissenschaftler zwei unterschiedliche Wege. So entwickelten Forscher am National Institute of Standards and Technology (NIST) in Boulder, im US-Bundesstaat Colorado, 1995 einen Ein-Qubit-Rechner und zeigten, daß die theoretischen Konzepte prinzipiell realisierbar sind. Sie benutzen eine Ionenfalle, bei der die Qubits aus Atomen gebildet werden, die einen Überschuß oder einen Mangel an Elektronen haben. Mit Laserblitzen gelang es, ein Elektron in eine Superposition zu bringen, in der es gleichzeitig eine Links- und eine Rechtsdrehung besitzt. Derzeit versuchen die Forscher am NIST eine Ionenfalle zu entwickeln, die zwei Qubits speichert.

Erfolgreicher waren die Forscher vom MIT und dem AT&T-Labor. Sie stellten Mitte des Jahres ihren „bescheidenen Zwei-Bit-Quantencomputer“ vor. Ein „Fingerhutvoll Chloroform“ diente ihnen als Speichermedium. Die in dem Chloroformmolekül miteinander verbundenen Kohlenstoff- und Wasserstoffatome lieferten ihnen die gewünschten Informationen über die Drehrichtung der Atomkerne – mittels eines in der Medizin gebräuchlichen Kernspintomographen.

Der Quantencomputer konnte die ihm zugedachte Aufgabe erfolgreich lösen: Aus einer Liste mit vier Möglichkeiten sollte der Computer eine bestimmte heraussuchen. Normalerweise würde man, so berichten die Forscher, „im Durchschnitt zwei bis drei Versuche brauchen“. Der Quantencomputer schaffte es mit einem Versuch.