Die Affäre W.

Der heute 57jährige Schweizer Musiker Binjamin Wilkomirski veröffentlichte 1995 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp das Buch Bruchstücke aus einer Kindheit 1939–1948. Darin schildert er martialische Szenen aus den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz. Köpfe werden zerquetscht, Ratten kriechen aus Frauenleichen, Blutströme quellen aus Mündern.

Die Schilderungen aus dem Kinderlager wechseln sich ab mit Szenen aus einem Schweizer Kinderheim, wo Wilkomirski nach dem Krieg gestrandet sein will. „Meine frühesten Erinnerungen gleichen einem Trümmerfeld einzelner Bilder und Abläufe“, schreibt Wilkomirski. „Ich kann nur versuchen, mit Worten das Erlebte, das Gesehene so exakt wie möglich abzuzeichnen – so genau, wie es eben mein Kindergedächtnis aufbewahrt hat: noch ohne Kenntnis von Perspektive und Fluchtpunkt.“ Die Schweizer Behörden hätten, so sagt er weiter, seine Herkunft vertuscht. Er sei zum Schweigen gebracht worden. „Ich bin aufgewachsen in einer Zeit und in einer Gesellschaft, die nicht zuhören wollte oder konnte.“

Inzwischen ist klar: Wilkomirski hat sich alles ausgedacht. Er ist weder Jude, noch wurde er verfolgt. Der Journalist Daniel Ganzfried, der die Fälschung öffentlich machte, kommt zu dem Schluß: „Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker aber kennt Auschwitz und Majdanek nur als Tourist.“ Ganzfried forderte Suhrkamp auf, das Buch vom Markt zu nehmen. Bisher ohne Erfolg – es ist für 12,80 Mark weiterhin als Taschenbuch zu erwerben.

Der Verlag hält zu Wilkomirski. Ob seine Schilderungen wahr sind oder nicht, sei nicht bewiesen.

Der Fall hat in den Medien zu heftigen Diskussionen geführt.

Ausschnitte: „Es hat nichts mit Respekt vor den Überlebenden des Holocaust zu tun, wenn man ihre Texte mit automatischer Ergriffenheit aufnimmt. Um es noch polemischer zu sagen: Man sollte sich der Frage aussetzen, ob die reflexhafte Angerührtheit, die Wilkomirski entgegenschlug, nicht eigentlich eine subtile Form der Abwehr ist.“ (Jörg Lau, Die Zeit)

„Es geht um nichts Geringeres als Fälschung, um Geschichtsklitterung. Wo aber beginnt die ,falsche Geschichtsschreibung‘, und gibt es womöglich eine ,falsche Geschichte‘ in der richtigen?“ (Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung)

„Auf den Trümmern des Judentums gedeiht keine Religion, sondern der Ritus der Erinnerung an den Holocaust, bei dem die Überlebenden, ob sie wollen oder nicht, die Priesterrolle spielen. Bei diesem verhängnisvollen Spiel, das nicht zu verhindern oder von vielen Unklarheiten und Ungenauigkeiten zu befreien ist, bieten sich Phantasten wie Doessekker an, die gern mit von der Partie sein wollen.“ (Leon de Winter, Spiegel)

„Natürlich ist es eine Anmaßung; man sollte den Fall indes nicht zu hoch hängen und an Wilkomirski die eigene Gesinnungstüchtigkeit exekutieren.“ (Martin Ebel, Berliner Zeitung) sim