Von der Sehnsucht, Opfer zu sein

Alles erfunden: „Bruchstücke“, die Kindheitserinnerungen aus dem KZ, hat der Schweizer Binjamin Wilkomirski mittels Psychotherapie herbeiphantasiert. Drei Jahre hat es niemand gemerkt  ■ Von Silke Mertins

Adoptivkind zu sein ist immer eine Kränkung. Die eigenen Eltern wollten einen nicht. Bruno Doessekker, 1941 unehelich als Sohn von Yvonne Berthe Grosjean in der Schweiz zur Welt gekommen, kennt dieses Gefühl. Der Junge kam ins Heim und wurde später zur Adoption freigegeben. Das Zürcher Ärzteehepaar Doessekker nahm den Jungen auf. 1947 wird er eingeschult.

Der leibliche Vater zahlt Unterhalt. Erst 1957 wird die Adoption rechtskräftig. Bruno wächst behütet auf und wird Musiker. Eine Lebensgeschichte mit Ecken und Kanten, die kein öffentliches Interesse finden würde.

Ganz anders diese: Das jüdische Kind Binjamin Wilkomirski aus Riga wird in Konzentrationslager verschleppt. Dort erlebt er die Hölle. In den Nachkriegswirren landet er in einem Kinderheim. Die Doessekkers holen ihn dort raus, berauben Binjamin aber seiner Identität. Er heißt nun Bruno. Alle amtlichen Papiere werden gefälscht. Jahrzehnte darauf gelingt es ihm mit Hilfe einer Therapie, die verdrängten Erlebnisse wieder auszugraben.

„Bruchstücke aus einer Kindheit 1939- 1948“ heißt das Buch, das vor drei Jahren im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschien und von allen Feuilletons ehrfürchtig gefeiert wurde. In dreizehn Sprachen wurden die preisgekrönten Erinnerungsfragmente übersetzt; Filme wurden gedreht, ein Theaterstück geschrieben. Wilkomirski, also Doessekker, avanciert weltweit zum gefragten Experten in Sachen „Kinder ohne Identität“.

So hätte es noch lange weitergehen können. Denn kaum jemandem waren die Ungereimtheiten der „Bruchstücke“ aufgefallen. Nun wundert sich der Holocaust- Forscher Raul Hilberg in der Zeit, „wie dieses Buch als Autobiographie in mehreren Verlagen durchgehen konnte“. Verhaltene Zweifel einzelner Rezensenten und Historiker wurden beim Erscheinen der „Bruchstücke“ nie öffentlich. Wer will schon einem Mann, der als Kind Unvorstellbares durchgemacht hat und heute doch so bescheiden daherkommt, Beweise abverlangen? Sollen etwa Holocaust- Überlebende mittels ihres Stammbaums ihre jüdische Herkunft und anhand KZ- Dokumenten ihre Leidensgeschichte nachweisen? Undenkbar.

Der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried traute sich trotzdem. Er recherchierte für die Schweizer Weltwoche die Lebensgeschichte des Binjamin Wilkomirski und fand heraus, daß alles nur erfunden ist. Fast lückenlos wies er die Eckdaten von Doessekkers Existenz in der Schweiz nach. Ein Foto von 1946 zeigt ihn bereits „putzmunter“, so Ganzfried, im Kreise seiner Lieben. Seine jüdische Identität hat der Autor, daran bestehen kaum noch Zweifel, sich ebenso ausgedacht wie seine Lagererlebnisse.

Seit mehreren Wochen wird in Literatur- und Historikerkreisen über die Lüge, die Schändung der tatsächlichen Opfer und die literarisch minderwertige Qualität des einst so hochgelobten Buches debattiert. „Das Schema des Buches wirkt konstruiert und unglaubhaft“ und die Formulierungen „nicht empfunden, sondern nachgelesen“, stellt etwa die Berliner Zeitung fest. Andere Autoren lassen nun, wissend, es mit einer Fälschung zu tun zu haben, kein gutes Haar mehr an den „Bruchstücken“. Wieder wird eilig und unisono geurteilt; zu kitschig sei das Buch, zu effektheischend und schemenhaft.

Eigentlich kann sich auch niemand mehr recht erklären, weshalb das Buch so erfolgreich war. Ist Fiktion anrühriger, macht sie betroffener als authentische Schilderungen? Droht womöglich die Banalisierung von Auschwitz? Wird die Hölle zum historischen Fundus, aus dem jeder, der sich berufen fühlt, Texte zusammenbastelt? „Kitsch ist immer plausibel“, konstatiert Ruth Klüger, Überlebende und Autorin des Klassikers „weiter leben“. Aber eben zu plausibel.

Unsinnigerweise wird nun die Frage diskutiert, ob Fälschungen wie „Bruchstücke“ den Rechtsradikalen, die den Massenmord an den Juden leugnen, in die Hände spielt. Wer Auschwitz bestreitet, läßt sich ohnehin von Gegenargumenten nicht irritieren – und wird sich nicht erst durch Wilkomirski bestätigt fühlen. Fälschungen hat es außerdem nicht nur in diesem Fall gegeben – die Hitler-Tagebücher beispielsweise. Shit happens.

Die Sehnsucht nach der Opferrolle hat Doessekker zu Wilkomirski werden lassen. Der Schweizer ist zwar der Unverschämteste, aber nicht der erste, der sich mit den Shoa-Opfern identifiziert. Die Neigung, sich auf der Seite der Verfolgten zu wähnen – und damit immer auf der richtigen zu stehen –, ist in der historischen Auseinandersetzung auch der Linken nicht eben unbekannt.

Doessekker alias Wilkomirski hat das Bedürfnis bedient, sich vor den Mördern zu grausen und angeekelt zu fühlen. Dabei hat er die Täter derart dämonisiert, daß ein jeder Leser sicher sein kann: Dieser Unmensch steckt nicht in mir. Das Böse kann getrost ausgelagert werden.

Die unrühmlichste Rolle in dieser Affäre spielt eine Art von Psychotherapie, die darauf zielt, Erinnerungen wiederzugewinnen. Dabei sind schon in der Diskussion um sexuellen Mißbrauch Vorwürfe um den Wahrheitsgehalt der Aussagen von Mißbrauchten laut geworden. Die Kritik lief darauf hinaus, daß Therapeuten immer fündig werden. Ganz ordinärer Kummer bekam dadurch eine ungleich gewichtigere Dimension, nämlich Opfer gesellschaftlicher Unterdrückung zu sein.

Die psychotherapeutischen Sitzungen brachten Geschehnisse zutage, die es nicht immer gegeben hat. Doch macht es sich stets besser, psychische Probleme und Unzulänglichkeiten darauf zurückzuführen, im Kindesalter traumatisiert worden zu sein, als auf einem Feld- Wald-und-Wiesen-Konflikt mit der Mutter herumzukauen.

Die Zeit zeichnet nach, daß auch Wilkomirski seine angeblich „verlorene“ Identität mittels einer solchen unterstützenden Therapie „wiedergefunden“ hat. Die Methode, in der therapeutischen Sitzung geäußerte Gedanken als wahrhaftig hinzunehmen, birgt in einer Zeit, in der Zeugen des Holocaust immer weniger werden, eine nicht unerhebliche Brisanz.

Die therapeutische Fachwelt befaßt sich zunehmend mit der zweiten und dritten Generation. Die Überlebenden selbst, trug kürzlich die israelische Psychoanalytikerin Ilany Kogan im Hamburger Institut für Sozialforschung vor, seien für Therapie selten zugänglich. Die Fälle in ihrem gerade erschienenen Buch „Der stumme Schrei der Kinder“ beschreiben ausschließlich Psychoanalysen mit Nachkommen der Naziopfer.

Das Trauma der Eltern erlebten die Kinder beinahe eins zu eins. „In der Regel“, so Kogan, „haben die Patienten selbst bei ihren Problemen keine Verbindung zum Holocaust gesehen.“ Erst die Behandlung habe die Traumatisierung offenbart. Oftmals stoße man bei den Betroffenen zunächst sogar auf Widerstand.

Wie aber will man bei der diagnostizierten Vererbung der Traumata künftig die Wilkomirskis von denen unterscheiden, die tatsächlich als Kinder und Kindeskinder der überlebenden Generation eine Last tragen, die sie nur schwer bewältigen können? Und: Kann man das Leid der Holocaust-Opfer gleichsetzen mit den Ängsten und psychischen Problemen, die sie an die nächste Generation weitergegeben haben?

Wer den israelischen Film „Der Sommer von Avia“ gesehen hat, konnte sich einen Eindruck davon verschaffen, unter welchen Belastungen die Kinder der Überlebenden aufgewachsen sind. Die üblichen pubertären Ablösungskämpfchen um Kleidung, Haarschnitt oder Freunde sind mit Eltern, die eine Nummer auf ihren Arm tätowiert haben, nur zum Preis von monströsen Schuldgefühlen zu führen. Dennoch kann das vererbte Trauma nicht als Allrounderklärung dienen. Auch den Opfernachkommen muß erlaubt sein, gewöhnliche psychische Probleme zu haben.

In der Mißbrauchsdiskussion, in der zuweilen geradezu inflationär mit Vorwürfen um sich geworfen wurde, war die Frage nach dem Wahrheitsgehalt tabu. Wer es dennoch tat, machte sich der Fortführung patriarchaler Unterdrückungsstrukturen mit anderen Mitteln verdächtig. Zwar läßt sich nicht bestreiten, daß sexuelle Gewalt über Generationen geduldet und verschwiegen wurde. Doch dies kann nicht als Grundlage dafür gelten, in allem Mißbrauch zu entdecken, also jede Behauptung mit der Wahrheit gleichzusetzen.

Wilkomirski wischte die Ungereimtheiten in seiner Geschichte mit einer Verschwörungstheorie vom Tisch. Die Schweizer hätten alles daran gesetzt, seine frühere Identität zu vernichten. Mit der Recherche des Journalisten Ganzfried konfrontiert, sagte er im Interview: „Niemand muß mir Glauben schenken.“ Jeder habe die Wahl, sein Buch „als Literatur oder als persönliches Dokument“ zu lesen. Nur: Wilkomirski hatte seine „Bruchstücke“ als authentisch ausgewiesen.

Nun kann man der Auffassung sein, daß Geschichte und Werte ohnehin von jeder Generation neu erfunden werden. Die Theorie von der „Invention of Tradition“ geht davon aus, daß diese Erfindungen einen Prozeß der Ritualisierung in Gang setzen. Die Tradition der schottischen Highlander etwa, belegt der Historiker Hugh Trevor-Roper, gab es vor dem 17. Jahrhundert gar nicht. Geister wurden erfunden, Texte und Geschichten gefälscht, um Tradition zu konstruieren.

Wilkomirskis Erfindungen sind jedoch anders gelagert. Ihm geht es nur um sich selbst, nicht um neue Werte oder ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Er konstruierte ein neues Ich, weil er mit seiner Biographie offenbar nicht zufrieden ist.

Der Eifer, mit dem Doessekker sich mit jüdischer Geschichte und Kultur befaßt, veranlaßt Ganzfried zu der gehässig schönen Bemerkung: „Uns ist, als könne jederzeit ein Rabbiner vorbeikommen, um das Glaubensbekenntnis seines Konvertiten zu überprüfen.“

Doessekker wollte jüdischer sein als die Juden und betroffener als die Opfer. Das hat seinem Publikum immer gefallen.