Der gerächte Vatermord

Vor vier Jahren erlebte Ruanda einen grauenvollen Völkermord. Frieden gibt es dort immer noch nicht. Ohne eine Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit und ihren Ursachen wird es ihn für Hutu und Tutsi auch nicht geben  ■ Von Peter Pieck

Als Ende 1996 fast zwei Millionen Ruander, die nach dem Völkermord von 1994 nach Zaire und nach Tansania geflohen waren, die Grenze in Richtung Heimat wieder überschritten, durchsuchten Soldaten stichprobenartig die Rückkehrer – und entdeckten Waffen. Die Handgranate unter dem Kopftuch einer jungen Frau war ein Symbol: Die Interahamwe-Milizen und Reste der alten ruandischen Armee setzen bis zum heutigen Tag den Völkermord, den sie als unvollendet betrachten, fort.

Opfer sind nicht nur Tutsi, sondern auch diejenigen Hutu, die mit den ruandischen staatlichen Institutionen zusammenarbeiten. Zwar ist der Regierung die Integration der Heimkehrer weitgehend gelungen. Aber von einer Rückkehr zur Normalität kann keine Rede sein, angesichts der zahllosen Terrorakte der Interahamwe und der Gegenschläge der Armee. Die Milizen benutzen dabei bis heute die kongolesischen Kivuprovinzen als Hinterland und Versorgungsbasis für ihre mörderischen Attacken.

Ruandas Regierung müht sich, den Wiederaufbau des Landes durch alle Ruander voranzutreiben und das Gespräch zwischen den beiden Gruppen zu fördern. Die Terrorakte der Interahamwe aber hemmen eine Politik des Ausgleichs. Außenpolitisch muß Ruanda – hier Israel ähnlich – seine grundlegenden Sicherheitsinteressen, das Überleben seiner Bevölkerung, wahren und im Ernstfall auch dort durchsetzen, wo die Regierung eines Nachbarstaates nicht in der Lage oder willens ist, Aggressionen zu unterbinden, die von seinem Territorium ausgehen. Innenpolitisch hat die ständige Bedrohung der Bevölkerung zur Folge, daß der Sicherheit der Vorrang gegenüber Presse- oder Versammlungsfreiheit gegeben wird.

Vor allem die UNO sieht diesen Zusammenhang anscheinend nicht: Sie drängt auf eine politische Öffnung der Regierung, die Zulassung oppositioneller Parteien, die Anwendung europäischer Rechtsstandards in einer Weise, als ob sie es mit einem beliebigen Land in Afrika zu tun hätte.

Diese Art von Krisenprävention – ein organisierter Dialogs zwischen den verfeindeten Gruppen – wird zwar als probates Mittel gepriesen, ist aber in Ruanda bislang nicht möglich. Eine ernste Absicht der Hutu-Seite, sich aktiv an einer Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit zu beteiligen, ist nicht erkennbar. Im Gegenteil, es wird verdrängt, gegeneinander aufgewogen, relativiert oder schlicht geleugnet.

Einen dauerhaften Frieden wird es in Ruanda nicht geben ohne ein Ende des Milizterrors – und damit einem Ende staatlicher Gegenschläge – und die juristische Aufarbeitung des Genozids. Vor allem aber die Aufarbeitung der jüngsten ruandischen Geschichte durch staatliche Institutionen, Gemeinden, Kirchen, regierungsunabhängige Organisationen. Die Auseinandersetzung mit dem Genozid ist zweifellos schwierig und unangenehm. Aber es gibt zu ihr keine Alternative.

Bislang gibt es nur eine Chronik des Völkermords. Auch werden verschiedene Faktoren als seine Ursachen diskutiert: der Kampf um politische und wirtschaftliche Macht, der überschnelle Demokratisierungsprozeß, die relative Überbevölkerung und die unheilvolle Rolle der Medien. Was fehlt, ist aber eine Erklärung für das hochexplosive Gemisch, dessen Detonation den Mord an einer Million Menschen zur Folge hatte. Vor allem ist durch nichts die beispiellose Grausamkeit zu erklären, die den ruandischen Völkermord kennzeichnete: Sie war nicht Mittel zum Zweck, sondern der Zweck selbst.

Das Spezifikum Ruandas gegenüber anderen afrikanischen Ländern ist das besondere Verhältnis der beiden großen ethnischen Gruppen zueinander. Ein heikles Thema, das von vielen Ruandern gemieden wird. Der Einwand, die Ethnien Hutu und Tutsi seien nur Produkt einer Fiktion, ist nicht stichhaltig. Zwar sprechen alle Ruander die gleiche Sprache, feiern dieselben Feste, und viele haben als Eltern Hutu und Tutsi. Aber das Argument, die ethnische Zugehörigkeit sei ein Produkt eigener Vorstellung und weniger der physischen Abstammung, führt nicht weit: Denn daß sich Individuen als dieser oder jener Ethnie zugehörig fühlen und gleichzeitig von anderen als solche wahrgenommen werden, genügt völlig.

Ein Teil der Identität des Individuums wie der Gruppe wird in Ruanda durch die jeweilige ethnische Zugehörigkeit definiert. Und diese Identifizierung wurde Anfang der neunziger Jahre mit der Ethnisierung des politischen Diskurses noch erheblich verstärkt. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die kollektiven Traumata, die von Generation zu Generation weitergegeben und auch von denjenigen übernommen werden, die das traumatisierende Ereignis gar nicht erlebt haben – wie etwa die Monarchie und der Sturz des Königs. Diese schweren psychischen Verletzungen können – ohne aufgelöst zu sein – lange Zeit verdrängt werden und bei einer „günstigen“ sozialen und politischen Konstellation unvermittelt wieder an die Oberfläche des kollektiven Bewußtseins drängen. Und dann das Verhalten von Tausenden von Menschen bestimmen.

Durch die gesamte Gesellschaft Ruandas und ihre Geschichte zieht sich Gewalt in großem Ausmaß, und sie ist keinesfalls nur politisch. 1992 gab es in Bicumbi, einer ländlichen Gemeinde mit etwa 85.000 Einwohnern, 27 Tötungsdelikte, 1997 waren es 23 Fälle. In Frankfurt am Main sind es jährlich nur etwa zehn Fälle pro hunderttausend Einwohner. Hierbei handelte es sich wohlgemerkt nicht um politisch motivierte Taten, sondern um Raubmord, Mord an ertappten Dieben, Mord am Ehepartner, am Bruder oder Racheakte.

Vielleicht besteht ein Zusammenhang zwischen dem Gewaltpotential der ruandischen Gesellschaft und ihren traditionell autoritären Strukturen, die nie ernsthaft in Frage gestellt worden sind. Gefängnisinsassen, die ihre Teilnahme am Völkermord gestanden haben, geben meist an, sie hätten 1994 getötet, weil eine „Autorität“ es ihnen befohlen habe: der Bürgermeister, ein Offizier oder ein Milizionär.

Das zweite Motiv zu töten war, nach Aussagen der Gefangenen, Angst. Angst oft gewiß vor den Repressalien der Milizionäre, die all denen mit Gewalt, ja mit dem Tod drohten, die sich ihrer Strategie, die Zahl der Schuldigen möglichst zu vergrößern, verweigerten. Aber es gab Tausende, die niemand zwingen brauchte.

Angst also wovor? Die Situation Anfang April 1994: Die ruandische Regierung hatte mit der Tutsi-Rebellenbewegung RPF einen Vertrag abgeschlossen, der eine Machtteilung vorsah. Die Weichen waren also auf Frieden gestellt. Allerdings weigerte sich die Regierung, allen voran Präsident Habyarimana, beharrlich, den Vertrag in die Tat umzusetzen. Am Abend des 6. April wird das Flugzeug mit dem „Landesvater“, den das Hutu-Lager als „unseren“ Präsidenten (also nicht den der Tutsi) bezeichnet, abgeschossen.

Damit wurden alle Tutsi zu vermeintlichen Vatermördern oder deren Helfershelfern und somit zu Geächteten, die zum Töten freigegeben sind, ja deren Ermordung zur patriotischen Pflicht erhoben wurde. Ziel ist nicht, einzelne Personen umzubringen: Die Täter beabsichtigen vielmehr die Tutsi wie inyenzi, wie Küchenschaben, auszurotten.

Zunächst wurden die „reinen“ Tutsi getötet; sie sollten – unter der Erde – insazo, die Matratze, für den toten Präsidenten bilden. Später tötete man auch die „Mischlinge“, sie sollten dem Landesvater als „Bettdecke“ dienen. Diese Ausrottungsphantasien bestanden schon lange, sie wurden nur durch den „Vatermord“ aktiviert und schließlich realisiert.

Die Unzufriedenheit über die Neuverteilung von Macht und Ressourcen ist keine zureichende Erklärung für den Genozid in Ruanda. War es die Angst vor einer Strafe für den „Vatermord“ von 1959/60, als der (Tutsi-)König außer Landes gejagt und Tausende von Tutsi umgebracht oder vertrieben worden waren? Wurde der Tod des Präsidenten als Menetekel für eine bevorstehende Bestrafung gedeutet, der keiner würde entkommen können? Immerhin waren die aller politischen Vernunft zuwiderlaufenden Befürchtungen vieler Hutu, die Machtteilung mit den Tutsi würde zur Wiederherstellung feudaler Abhängigkeiten führen, wie sie in der Monarchie vor 1960 bestanden hatten, nie verstummt. Im Gegenteil: Sie wurden noch geschürt.

Hinzu kommt wohl auch libidinöse Energie. Daß Macht und der blutige Kampf um sie sehr oft etwas mit Sexualität zu tun haben, ist offensichtlich. Noch mehr über diesen fatalen Zusammenhang als die Greueltaten an Frauen und Mädchen während des Genozids sagt die Aufforderung eines Hetzsenders der Hutu-Milizen im Hinblick auf die französischen Soldaten, die im Rahmen der „Opération Turquoise“ im Frühsommer 1994 im Lande waren: „Hutu-Mädchen, macht euch hübsch, jetzt, wo die Tutsi-Mädchen tot sind, habt ihr die Chancen bei den Franzosen, nutzt sie.“

Sexualität in Ruanda ist eine Geschichte der gewaltsamen Beziehungen zwischen den Geschlechtern und den ethnischen Gruppen. Ein ruandisches Sprichwort sagt: „Die Traurigkeit kommt nicht aus dem Bauch heraus, sie durchbricht nicht seine Wand.“ Was für die Traurigkeit gilt, gilt auch für andere Gefühle. Ruandische Jugendliche haben kaum Gelegenheit, ihre eigene Rolle gegenüber dem anderen Geschlecht zu erproben. Für Mädchen gibt es nur die eine Rolle, nämlich die des „anständigen“ Mädchens, das als Jungfrau in die Ehe geht.

Eine freundschaftliche Beziehung zu einem Mädchen wird aber häufig von den jungen – und erst recht von den älteren – Männern für ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse ausgenutzt, oft auch gewaltsam. Raum für einen experimentellen Umgang mit der Liebe, der Sexualität nicht verdammt, aber beiden Personen immer auch die Möglichkeit läßt, nein zu sagen, fehlt.

In den Jahren nach dem gewaltsamen Sturz der Monarchie 1959/60 und der Ermordung und Vertreibung vieler Tutsi stieg die Anzahl der gemischtethnischen Ehen sprunghaft an, allerdings nur in einer Konstellation: Hutu-Männer, fast ausnahmslos mit hohem Bildungsniveau, heirateten Frauen der politisch entmachteten Tutsi. Eine solche Eheschließung war für viele intellektuelle Hutu ideal: durch den Ehepartner wurden das eigene Schönheitsideal realisiert und gleichzeitig die neuen politischen Abhängigkeitsverhältnisse augenfällig präsentiert.

Die Familie der Tutsi-Frau genoß durch diese Konstellation einen gewissen Schutz, die Kinder (die wegen ihres Vaters als Hutu galten) hatten es beim Zugang zu gesellschaftlichen Privilegien, etwa Sekundarschulplatz oder Stipendium, leichter.

Später wurde es allerdings den Hutu- Offizieren der Armee verboten, Tutsi- Frauen zu heiraten. Extremistische Hutus sahen diese „Mischehen“ als gezielte Versuche der Tutsi an, Hutu zu korrumpieren und auszuspionieren. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu dem Gebot der „reinrassigen“ Ehe, das von extremistischen Hutus 1990 in den berüchtigten „Zehn Hutu-Geboten“ aufgestellt wurde.

Die Ideologen und Organisatoren des Völkermords strebten eine ruandische Bantu-Gemeinschaft an, die auf der ethnischen Reinheit des Blutes beruht. Dieser Gedanke der Blutsgemeinschaft wurde von vielen akzeptiert und propagiert, am Ende von Tausenden in die Tat umgesetzt, bis hin zu denjenigen, die freiwillig ihre eigenen Ehepartner und Kinder verrieten und den Milizen überantworteten.