Auferstanden mit Ruinen

Metropolenglanz erfüllt Berlin. Daimler-City strahlt am Potsdamer Platz, Friedrichstraße und Hackesche Höfe locken. Doch hier und da liegt die Stadt brach: Die Investitionsruinen besichtigt  ■ Uwe Rada

An die Glitzerwelt von nebenan erinnert nur eine Zigarettenwerbung. „New York City Lights“ steht da über der erleuchteten Skyline von Manhattan. Doch die Versprechungen der weiten Welt scheinen an der Leipziger Straße, keine hundert Meter vom Potsdamer Platz enfernt, vorbeigegangen zu sein. Die Zigarettenwerbung ist an einem wackligen Bretterzaun angebracht, hinter dem nur einige Häuserstümpfe in den Himmel ragen. Zwischen den Ruinen stehen Biergartenbänke und Küchenstühle, daneben ein verrosteter Wellblechverschlag. Berlin, die Stadt der Lücken und Ruinen – beinahe möchte man glauben, daß die Provisorien der Nachkriegszeit die Goldgräberstimmung und das Baufieber der Nachwendezeit überdauert haben.

„Ich kann den Potsdamer Platz nicht finden! Nein, ich meine hier... Das kann er doch nicht sein!“ Es ist kein Passant, der diesen Stoßseufzer tut, es war Homer, der greise Erzähler in Wim Wenders Kinohommage „Himmel über Berlin“. Homer, der, als er nicht mehr weiß, wovon er erzählen soll, müde in einen Sessel fällt. Einen Sessel, der als Sperrmüll auf einer riesigen Brache steht, die einmal das Sinnbild der Metropole war: der Potsdamer Platz.

Auch heute, nachdem über eine Million Menschen die Eröffnung der Daimler-City am vergangenen Wochenende gefeiert haben, ist der Potsdamer Platz noch Sinnbild. Und noch heute hätte Curt Bois alias Homer in der Leipziger Straße weniger Mühe, einen Sperrmüllsessel zu finden als Metropolenglanz. Was Berlin heute vom Bild Wim Wenders der achtziger Jahre unterscheidet, ist lediglich der Umstand, daß sich zum fragmentarischen Stadtbild der Nachkriegsruinen nun die Silhouetten der Investitionsruinen gesellen.

Zum Beispiel am Checkpoint Charlie. Am berühmtesten Grenzübergang des geteilten Berlins steht noch immer ein riesiges Schild mit der Aufschrift „Halt! Hier wird gebaut“. Daneben, auf einer Brandmauer mit dem etwas vergilbten Schriftzug „Neue Zeit. Die christliche Zeitung Deutschlands“ hat der Investor Checkpoint Charlie Development Corporation (CEDC) ein Plakat anbringen lassen. „Höchste Zeit“, ist darauf zu lesen. Doch die Stunde der CEDC hat längst geschlagen. Nachdem sich der milliardenschwere Erbe Ronald Lauder von seinen Kompagnons verabschiedete, heißt es am Checkpoint Charlie eher: „Halt! Hier wird aufgeräumt“. Zwei der fünf Blöcke des ursprünglich geplanten American Business Center werden gar nicht erst gebaut, die anderen drei stehen – wie der übriggebliebene Wachturm – herum: wie bestellt und nicht abgeholt. Die Grenze verläuft nicht mehr zwischen Ost und West, sondern zwischen leer und vermietet.

Mit seinen Exponaten Wachturm und Leerstand ist der Checkpoint Charlie nicht nur Mahnmal jüngerer und jüngster Zeitgeschichte. Er ist zugleich ein Dokument ihrer Überwindung. „Nun soll hier eine kleine Grünanlage entstehen“, sagt der Baggerfahrer, der das Gelände eines der beiden auf Eis gelegten Baublöcke derzeit entrümpelt. Und vis-à-vis, wo sich im Oktober 1961 die Panzer der Alliierten gegenüberstanden und ein avantgardistischer Block des New Yorker Büros SOM aus dem Grenzland wachsen sollte, parken nun Autos in Reih und Glied. Am Checkpoint Charly schlägt jetzt der Durchschnittsbürger zurück. Und nicht nur der, wie das Beispiel des ehemaligen Stadions der Weltjugend zeigt. Um dem Bau einer Allzweck-Olympiahalle Platz zu machen, wurde Berlins größtes Stadion in der Chauseestraße in Mitte 1992 platt gemacht. Und ein Jahr später wurden auch die Hoffnungen des damaligen Bausenators Wolfgang Nagel (SPD) auf die Treue privater Investoren nach dem Berliner Olympiadebakel 1993 zerstört. Karl von Sydow ist darüber nicht unglücklich. Er hat bereits 1996 einen Volxgolf-Club gegründet, der auf dem brachliegenden Stadiongelände eine Drei- Loch-Anlage betreibt. Dem Ruf, den noblen Sport zu unterwandern, sind auch andere gefolgt. Zum Beispiel der Kreuzberger Golf Bund (KGB) oder die Berliner Außenstelle des Golfpark Schloß Wilkendorf e.V.

„Wir sind uns schon heute kaum mehr über die Folgen dessen bewußt, was wir gerade bauen“, hatte der Stadtsoziologe Hartmut Häußermann einmal auf einer Veranstaltung im Berliner Tacheles gesagt und ein „Planungsmoratorium“ gefordert. In Berlins wohl berühmtester Bauruine ist man neuerdings mit ganz anderen Folgen konfrontiert: der Aneignung ehemaliger Aneigung von Brachgelände. Wo die Friedrich- auf die Oranienburger Straße trifft und nach der Wende Hausbesetzer und Künstler die zum Abriß freigegebene Ruine des ersten Stahlskelettbaus Berlins besetzten, hat sich vieles von der einstigen Alternativkultur inzwischen selbst überlebt.

Während der Investor Fundus aus Köln immer noch auf Zeit spielt und das Zelt für die Musicalaufführung „Der Herr der Ringe“ noch immer auf eine Genehmigung wartet, haben sich auf der Brache neben dem Tacheles Imbißbetreiber niedergelassen. Ein paar Bänke in der Nähe gehören zum „Biergarten Nirgendwo“. Von dem weiß allerdings niemand, ob er schon wieder geschlossen oder gar nicht erst eröffnet hat. Nicht nur durch die Landnahme urbaner Hedonisten werden die Lückenpioniere verdrängt, sondern auch durch das Vordringen der Berliner Bulettenkultur.

Nur in der Spandauer Vorstadt, Berlins Vergnügungs- und Kulturmeile unweit des Hackeschen Marktes in Mitte, ist von alldem noch nichts zu spüren. Hier, wo das Auge von Touristen und Schlipsträgern vom Elend der Metropole kaum beleidigt wird, sind selbst die Investitionsruinen ordentlicher als sonst. Zum Beispiel am Rosenthaler Hof. Der ebenerdige Estrich an der weithin sichtbaren Ecke Rosenthaler und Gipsstraße ist glatt wie eine Landebahn, die Versorgungsschächte sind frei von Schmierereien und die Steigeleitungen für Strom und Wasser mit Dutzenden von Betonkappen versehen. So mancher, der vom nahe gelegenen Hackeschen Markt die Rosenthaler Straße hochgelaufen kommt, glaubt ein Gesamtkunstwerk vor sich, eine riesige Baustelleninstallation mit einem Pollerfeld, das einer umgestülpten Kraterlandschaft ähnlich sieht.

Dabei ist der Rosenthaler Hof nichts anderes als ein moderner Krater, der zum Verkauf steht. Vom ursprünglich geplanten Büro- und Geschäftshaus wurden nur die Kellergeschosse errichtet, danach wurde die Baustelle, wie es im Investorenjargon heißt, „eingemottet“. Wäre das Kunstwerk nicht eingezäunt, die Berliner würden es sich sofort aneignen. Aber auch so lacht über dem Rosenthaler Hof der Himmel über Berlin.