"Zeichen reisen ohne Körper"

■ Bei Regen sind alle Straßen naß: Über kreative Datenhighways, Internet-Business und Medien-Demokratie. Wie kann Kunst auf Fortschritt durch Technik reagieren? Ein Gespräch mit Peter Weibel, der als Ex-Mathemat

taz: Herr Weibel, wollten Sie sich nicht zurückziehen und einen Roman schreiben?

Peter Weibel: Stimmt. Ich nenne ihn „Die gesammelten Schriften von Vermeer“, obwohl es die natürlich gar nicht gibt. Interessant ist er für mich, weil er meiner Ansicht nach der erste Medienkünstler war und sich intensiv mit den Möglichkeiten der Camera Obscura, also mit der apparativ gestützten Bildherstellung beschäftigte. Das ist eines von drei experimentellen Projekten, die ich wegen immer neuer Berufungen nicht fertigstellen kann.

Aber ungelegen kam der Ruf ans ZKM doch nicht?

Nein, natürlich nicht, da ja schon länger diskursive Verbindungen zu Heinrich Klotz bestehen. Wichtig ist auch, daß ehemalige Studenten von mir jetzt am ZKM als Professoren lehren und Weggefährten wie Jeffrey Shaw Abteilungen leiten. Überraschend ist für mich, daß die politische Ebene – die auch einen Informatiker oder Betriebswirt hätte nehmen können – sich für mich entschieden hat. In Österreich wäre das nicht möglich, weil Kompetenz dort keine Rolle spielt.

Ist es nicht ein wenig problematisch, Chef von alten Bekannten zu werden?

Ich glaube nicht, da man am ZKM doch lieber unter einem fachlich anerkannten Leiter arbeitet. Ich habe ja nicht nur in den Bildmedien gearbeitet, sondern in den achtziger Jahren unter anderem die Musikgruppe Hotel Morphila gegründet und in einer Art Rock-Formation als Gitarrist und Leadsänger unter anderem logische Sätze wie „Wenn es regnet, dann ist die Straße naß“ als Poptext gebracht. Außerdem habe ich ein Buch über die Geschichte von Musikvideos und visueller Musik gemacht, so daß es fast kein Gebiet von der Mathematik bis zur Musik gibt, in dem ich nicht eine gewisse Kompetenz hätte. Das erleichtert natürlich den Umgang mit Kollegen aus unterschiedlichen Fachbereichen.

Warum sehen Sie die Übernahme des ZKM als Krönung ihrer Arbeit?

Weil man hier in der Champions League spielt. Bisher war es immer so, daß ich einer Institution Ehre gebracht habe, jetzt kann ich vom Renommee eines Hauses profitieren und nicht nur mit meinen eigenen Flügelschlägen etwas bewegen, sondern einen Motor nutzen, der meine Flügelschläge unterstützt.

Gibt es tatsächlich keine vergleichbare Medienmaschine?

Nein. Das ICC etwa, das International Communication Center in Tokio, belegt ein Stockwerk eines Wolkenkratzers und hat eine Mediensammlung, aber kein Forschungslabor. Oder das vielzitierte M.I.T., das Massachusetts Institute of Technology in Boston, als prominentestes Schnittglied im Bereich industriell-militärischer Forschung. Dort allerdings wird keine Kunst gemacht, so daß das ZKM mit seiner Mischung einmalig ist.

Mit „Mischung“ meinen Sie wohl die interdisziplinäre Arbeit. Könnten Sie das erläutern?

Ich würde inzwischen sogar postdisziplinär sagen, da es Kunstformen und Künstler gibt, die man nicht mehr einer Disziplin zuordnen kann. Nehmen Sie einen gescheiterten Architekten, der mit dem Computer spielt und keine Lust mehr hat, Modelle zu basteln. Der macht virtuelle Modelle, ist innerhalb von zwei Jahren ein perfekter Programmierer und baut im Internet mit der VRML, der Virtual Reality Modelling Language, Häuser und vieles mehr. Er ist gleichzeitig Architekt, Programmierer und Computerkünstler. Genau das meine ich mit postdisziplinär.

Das Internet wird von vielen als Demokratisierungsmedium gesehen. Will man dort allerdings abrufen, was Sie gerade schildern, ist ein leistungsstarker sprich teurer PC notwendig. Also nur eine Demokratisierung für Wohlhabende?

Ich würde noch weiter gehen und veranstalte genau deshalb demnächst in Graz ein Symposium über „Kunst und globale Medien“, in dem ich die Menschen versammle, die der Ansicht sind, das Netz sei eine Bedrohung für die Demokratie. Die Cowboy-Euphorie der letzten Jahre, als sei da eine große Prärie, auf der jeder unbegrenzt und frei herumreiten könne, ist lächerlich. Der Wilde Westen ist ein Mythos und das Netz die nächste Stufe dessen, was ich „gekaufte Öffentlichkeit“ nenne. Das Resultat ist eine Verelendung des öffentlichen Raumes und Tyrannei der Intimität, wie Sennet schon vor Jahren in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ geschrieben hat. Man sieht das gerade am Starr-Report und der Tatsache, daß da eine Ansammlung von Behauptungen ganz einfach ins Netz gestellt und über das Private Politik gemacht wird. Im Netz geht es immer eindeutiger um die Bild- Zeitung und nicht um die taz. Je mehr dieser öffentliche Raum derart verkauft wird, desto antidemokratischer wird er.

Stellt sich dieses Problem für Sie nicht von genau der anderen Seite? Wenn Sie im ZKM zum Beispiel High-Tech-Forschung betreiben wollen, an der lediglich Nutzer mit teurer PC-Hardware partizipieren können?

Das sehe ich auch problematisch. Wir werden allerdings versuchen, diskursive Beiträge zu gestalten und aus dem ZKM nicht nur ein Kompetenzzentrum für Technologie-, sondern auch für soziale Fragen zu machen. Wenn man sieht, daß der enthemmte Neoliberalismus seinen Aufstieg wesentlich den internationalen Medienkonglomeraten verdankt, kann ich doch nicht Medienkunst und -technik betreiben und diese Entwicklung ausklammern.

Bedeutet das, das ZKM soll einerseits zur High-Tech-Konkurrenz der Industrie werden, seine Ergebnisse allerdings auf einem verständlichen und finanzierbaren Level anbietet?

So ist es. Ich möchte die High- Tech-Forschung nicht dem militärisch-industriellen Komplex überlassen und als Künstler nur die Technik verwenden. Was Nam June Paik machte, einen leeren Fernseher als Statement hinzustellen, ist sicherlich eine sehr reizvolle, historisch aber begrenzte Anti-Geste der sechziger Jahre. Ich möchte das Terrain auch deshalb nicht dem militärisch-industriellen Komplex überlassen, weil dort nicht per se Feinde, sondern auch seriöse Wissenschaftler sitzen. Der Künstler muß genauso kompetent sein und den Forschern dort zeigen, daß es Möglichkeiten der diskursiv-demokratischen Nutzung von Forschungsergebnissen gibt. Das ZKM sollte also auch insofern zum High-End-Testfeld werden, als es nicht nur selbst entwickelt, sondern auch von der Industrie entwickelte Produkte vor der Markteinführung auf Benutzerfreundlichkeit hin testet.

Können Sie finanziell überhaupt mithalten, wenn Sie auf hohem Level in kreative Konkurrenz zur Industrie treten wollen?

Ja, wenn es mir gelingt, in bestimmten Bereichen Themenführerschaft zu erreichen und früher als die Industrie zu wissen, was in naher Zukunft gefragt sein wird.

Zum Beispiel?

Ich kann etwa fragen, was heißt eigentlich „Netz“? Wie sehen die aktuellen Internet-Suchmaschinen aus, und ist es akzeptabel, daß ein Nutzer sich zuerst einmal stundenlang kundig machen muß? Da gibt es einen ziemlich unbekannten mathematischen Zweig, der sich mit Zufallsgraphen und Fragen wie der beschäftigt, wieviele Linien ich zur Verbindung mehrerer Punkte brauche. Insgeheim werden da evolutionäre Strategien erforscht, da die Evolution ja nicht Tausende von Kombinationsmöglichkeiten durchgehen, sondern in sich eine Handlungsanweisung haben muß, mit wenigen Verbindungen das Richtige zu erwischen. Aus solchen mathematischen Modellen kann man Optimierungsstrategien für Netzverbindungen als Ersatz für Suchmaschinen entwickeln.

Sie stehen für eine ZKM-Neuorientierung und treten gegen den Trend zur Musealisierung an. Hätte Heinrich Klotz diese Kurskorrektur nicht durchführen können, und was werden Sie ab Januar 99 anders machen?

Der Weg von Heinrich Klotz war in der Aufbauphase genau richtig, jetzt allerdings müssen wir seine Programmschiene verlassen. Das ZKM muß zuerst mal zum Diskussionsforum werden. Also werde ich möglichst schnell Fachkonferenzen organisieren und klar machen, daß es weder um eine Versöhnung von historischer Kunst und Medienkunst noch um eine Eingliederung der Medienkunst in Alltagskunst durch Künstler wie Bruce Naumann, Gerry Hill und Bill Viola geht. Die Medienkunst muß einen eigenen Diskurs führen und sich zwischen Kunst und Wissenschaft restrukturieren. Die Aufgabe der ersten zwei Jahre ist, das durch Ausstellungen, Konferenzen und Publikationen klarzustellen. Es kann nicht sein, daß wir nur wiederholen, was die Museen ohnehin machen. Die Emanzipation der Medienkunst von traditioneller Kunst geht allerdings nur mit jungen Künstlern und nicht mit den üblichen Medieninstallationen als Wiederholung der Körperbilder der letzten Jahrhunderte. Durch die Technik können Zeichen ohne menschliche Körper reisen, also kann man das Wesen der Technik nicht mit Vorstellungen von Welt, Körper und Raum aus dem 19. Jahrhundert zurückübersetzen.

An welche Künstler denken Sie dabei?

Ich liebe zum Beispiel die Arbeit von Jordan Crandall, der sich mit Beobachtersystemen und damit beschäftigt, was geschieht, wenn ich einen Raum betrete und beobachtet werde. Ich halte nichts mehr von Künstlern, die ihre Körperlichkeit und Existenzsorgen ausstellen. Medienkünstler sollten Medien reflektieren.

Und Sie selbst? Sie machen den Eindruck eines Technikeuphorikers. Ist da irgendwo ein Hauch von Skepsis?

Ich bin ein Philosoph der Technologie mit euphorischem Grundton. Freud schreibt, die Arbeit der Schrift sei, Absenzen zu überwinden. Für mich setzt Technik die Arbeit der Schrift fort und ermöglicht, über Dinge zu kommunizieren, die räumlich nicht vorhanden sind. Technik kann auch Wunden heilen, die durch Absenzen entstehen. Leidet jemand, weil die geliebte Person nicht anwesend ist, kann auf symbolischer Ebene etwa das Telefon helfen. Grundsätzlich ist Technik ein Instrument zur Steigerung unserer Zivilisationsfähigkeit. Also bin ich euphorisch und gehe davon aus, daß wir ohne Technik in Barbarei zurückfallen würden und die Komplexität heutiger Kommunikationsmöglichkeiten nicht mehr zusammenhalten könnten. Gleichzeitig allerdings muß ich aufpassen, daß die Komplexität nicht für Monopole, Kartelle und zur alleinigen Profitmaximierung mißbraucht wird.

Ihr Vertrag läuft fünf Jahre. Treten Sie mit einer längerfristigen Perspektive an?

Es gibt die Option der Verlängerung, ich trete aber zuerst nur für fünf Jahre an. Dann bin ich fast sechzig und kann wirklich nicht mehr behaupten, ich sei jung. Wie es weitergeht, hängt davon ab, ob ich dann überhaupt noch den Riecher und die Aufnahmefähigkeit habe, mit wenigen Informationen sehr schnell gültige Modelle machen zu können. Man schnappt ein Wort auf und spürt sofort, das ist das Richtige! Sollte ich merken, daß der Bleistift noch spitz genug ist, mache ich weiter. Interview: Jürgen Berger