Ein Repertoire von Daumenschrauben

■ Vor Beginn der gestrigen Koalitionsrunde, bei der das Thema Atomausstieg auf dem Programm stand, hatten SPD und Grüne nach wie vor Dissens in entscheidenden Punkten. Unterschiedliche Vorstellungen haben sie über den Zeitrahmen des Ausstiegs und die Atommüllentsorgung

„An die Identität eines der beiden Partner darf es nicht gehen“, warnte Gerhard Schröder, als er am Samstag auf dem Rückweg von New York nach Bonn beim niedersächsischen SPD-Landesparteitag in Hameln Station machte. Als es dann gestern in Bonn mit den Koalitionsverhandlungen weiterging, stand neben einer Reihe anderer Punkte erstmals das Thema „Atomausstieg“ auf der Agenda.

Die grüne Identität hatte Niedersachsens Grünen-Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms schon am Freitag in Gefahr gesehen, als sie vor der Presse gemeinsam mit dem niedersächsischen Umweltminister Wolfgang Jüttner (SPD) über die Ergebnisse einer achtköpfigen rot-grünen Arbeitsgruppe berichtete. Die hatte im Auftrag der Bonner Koalitionäre die Verhandlungen über den Atomausstieg vorverhandelt. Die drei Vertreter der Grünen in der Arbeitsgruppe – neben Harms der hessische Umweltstaatssekretär Rainer Baake und die atompolitische Sprecherin der alten Grünen-Bundestagsfraktion, Ursula Schönberger – hatten da gerade im niedersächsischen Umweltministerium dreieinhalb Stunden mit fünf Atomexperten der SPD konferiert: mit dem Hausherrn Wolfgang Jüttner, dem schleswig-holsteinischen Energieminister Claus Möller, dem energiepolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Volker Jung, mit Schröders energiepolitischem Berater, dem Ex-Veba-Manager Werner Müller, und seiner atompolitischen Fachfrau in der niedersächsischen Staatskanzlei, Christel Möller.

„Ein vertrauliches Ergebnisprotokoll“, in dem zwar „viele Fragen gemeinsam vorgeklärt werden“ konnten, sich aber auch „eine kleine Liste von wichtigen Dissenspunkten“ findet, hatten die acht Vorverhandler zu Papier gebracht. Wolfgang Jüttner sprach davon, daß beide Seiten „so schnell wie möglich aus der Atomkraft aussteigen“ und „diesen Prozeß unumkehrbar“ machen wollten. Aber Dissens gebe es weiter in beiden zentralen Feldern, beim Ausstieg wie der künftigen Atommüllentsorgung, sagte er. Rebecca Harms zählte zu den Streitpunkten, die jetzt in Bonn auf Grundlage des Protokolls der Arbeitsgruppe geregelt werden müßten, auch den wohl entscheidenden: den „Zeitrahmen des Ausstiegs“.

Den bundesdeutschen Atomkraftwerken nur noch eine Gnadenfrist gewähren oder, juristisch gesprochen, „den Ausstieg durch eine Befristung der AKW-Betriebserlaubnisse regeln“ – das war die Marschroute, die Grünen-Vorstandssprecher Jürgen Trittin „seinen Leuten“ in der rot-grünen Atomausstiegsarbeitsgruppe am Freitag in Hannover noch mit auf den Weg gegeben hatte. Die Vorstellungen vom Ausstieg sind unterschiedlich. Der Grüne Rainer Baake etwa hat maßgeblich jenen Entwurf für ein Ausstiegsgesetz erarbeitet, den die Grünen am liebsten durch den neuen Bundestag bringen würden. Nach Baakes Entwurf sollen alle bundesdeutschen AKWs binnen fünf Jahren per Gesetz abschaltet werden, ohne daß Entschädigungszahlungen an die Betreiber fällig werden. Die Höchstlebensdauer für alle AKWs von 25 Jahren, die das grüne Ausstiegsgesetz außerdem vorsieht, würde darüber hinaus die drei ältesten deutschen Atommeiler schon binnen Jahresfrist vom Netz zwingen. Den Gegenpol in der rot-grünen Ausstiegs-AG vertraten die Vertrauten Schröders, der nur ein Ende der Atomstromproduktion im Konsens mit den Energieversorgern will und sich einem Ausstieg in 20, 30 Jahren verschrieben hat.

Mögliche Kompromißlinien zwischen diesen weit auseinander liegenden Ausstiegsvorstellungen sind in Hannover bereits deutlich geworden. Der niedersächsische Umweltminister Wolfgang Jüttner und die Grünen-Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms saßen am vergangenem Donnerstag noch gemeinsam bei einer Fachtagung „Atomausstieg – Und was dann?“ auf dem Podium, die die Grünen- nahe Heinrich-Böll-Stiftung bewußt in die Zeit nach der Bundestagswahl gelegt hatte. „Durch eine Verzahnung von Gesetzgebungsmaßnahmen mit Konsensbemühungen“ wolle er „den Auftrag der Gesellschaft zum Ausstieg umsetzen“, kündigte nun Jüttner an, der bisher das grüne Ausstiegsgesetz als „selbstgelegten Fallstrick“ abqualifiziert hatte. Jüttner will zunächst eine erste Änderung des Atomgesetzes auf den Weg bringen, die etwa die Förderung der Atomkraft aus dem Gesetzestext streicht und im Grundsatz auf den Ausstieg hinsteuert. Bei einem Scheitern der Konsensgespräche, die Jüttner parallel führen will, könne man dann gegebenenfalls „ein zweites Gesetzgebungsverfahren nachschieben“.

Auch Rebbeca Harms listete „ein kleines Repertoire von großen Daumenschrauben“ auf, mit dem sie den Energieversorgern die Lust auf Klagen und Prozesse gegen den Ausstieg nehmen will. Da könne man etwa die Betreiber zwingen, sich vollständig gegen die Risiken von Atomanlagen zu versichern. Man könne die Steuerfreiheit der Rückstellungen der Stromunternehmen für die Entsorgung aufheben. Etwa 55 Entsorgungs-Milliarden haben die Betreiber derzeit zurückgelegt, respektive in Firmenkäufe investiert. Allein ein Verbot der Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennelemente, wie es die Grünen anstreben, würde zur Nachversteuerung von etwa 18 Milliarden führen und die Stromer damit etwa 9 Milliarden kosten. Auch eine Novellierung der Strahlenschutzverordnung im Sinne der Grünen würde den Betrieb von Atomkraftwerken nicht billiger machen. Wolfgang Jüttner wollte zumindest „nicht allen diesen Vorschlägen widersprechen“. Jürgen Voges, Hannover