Sentimentaler Bilderdienst

Georg Seßlens Geschichte der populären Mythologien des Kinos ist ein Blick ins Leben der Nichttotzukriegenden. In der Angestelltenkultur ist Terror erlaubt  ■ Von Sebastian Weber

Die Mythen und Helden der populären Kultur finden keine Ruhe. Zur Not machen sie als Gespenster weiter, auch so bleiben sie dem gesellschaftlich Imaginären erhalten. Schließlich handelt es sich um mythische Wesen, und die sind nie so tot, daß sie nicht von Zeit zu Zeit wiederauferstehen könnten. Die Kulturindustrie läßt nichts verkommen, sorgt aber doch dafür, daß sich das Leben der Nichttotzukriegenden in verschiedenen Preisklassen abspielt.

Die höchste, die sie im Angebot hat, ist inzwischen selber zum Mythos geworden. Es war einmal ... die große Zeit des Kinos. Schon deshalb muß man es einer Geschichte des Films hoch anrechnen, wenn sie weder nostalgische Früher-jetzt-Mythologeme strapaziert noch nach Art der üblichen Kunstgeschichte verfährt und großen Regisseuren und Stilrichtungen die Reverenz erweist.

Keine Frage: Bei den „Grundlagen des populären Films“ von Georg Seßlen handelt es sich um ein Ausnahmeprojekt. Gäbe es hierzulande so etwas wie Cultural Studies schon etwas länger, müßte man Seßlen sicher als einen der Pioniere würdigen (nach Kracauer, versteht sich). Unter dem etwas nach Fundamentalkulturwissenschaft klingenden Titel kommt gleich eine ganze Reihe von Büchern zusammen, für jedes der großen Genres des Kinos eins. In anderer Aufmachung gab es die meisten schon einmal bei Rowohlt, mittlerweile liegen aber vier von ihnen in aktualisierten Neuauflagen vor: zuverlässige und brauchbare Darstellungen der Geschichte des Western, des Thrillers sowie des Detektiv- und des Abenteuerfilms, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung, die diese Genres in den letzten 20 Jahren durchgemacht haben. Von den Nachschlagewerkqualitäten einmal abgesehen sind Seßlens Bücher dort am besten, wo ihr Verhältnis zu den mythologischen Welten der Filme so weit offen bleibt, daß Faszination und Distanz miteinander ringen, ohne sich etwas zu schenken. Aber welche dieser Welten besitzt noch diese mythische Spannweite und Zweideutigkeiten?

Was das Lieblingsgenre der Kinomythologen, den Western, betrifft: Er hat seine Schuldigkeit getan. Nach der Verklärung der amerikanischen Gründungsgeschichte und den anschließenden Entmythologisierungsversuchen (Entschuldigung bei den Indianern usw.) hat er sich im Zirkel der Selbstreferentialität zur Ruhe gesetzt. Doch solange ein Gesicht vom Kaliber Clint Eastwoods herumirrt, um noch einmal abzurechnen, können sogar in diesem Genre klasse Filme entstehen. Bei denen es sich aber konsequenterweise um, wie Seßlen sehr treffend formuliert, „Gespensterwestern“ handeln muß.

Die meisten der Filme dagegen, die heute noch Western sein wollen, begnügen sich mit einer Art von sentimentalem Bilderdienst. Vielleicht hindert diese Filme gerade ihr Perfektionismus im Umgang mit mythischen Residuen daran, einen Erzählrhythmus zu finden, der diesen Namen verdient, um nicht gleich den berühmten epischen Atem zu verlangen. Die beliebte Ausrede, man könne, nach Auflösung der Genrekonventionen, die ganze Geschichte mit den Mythen eher spielerisch angehen, unterschreibt Seßlen klugerweise nicht. Als Experte weiß er nur zu gut, wie dürftig die filmischen Resultate solcher Lockerungsübungen gewöhnlich aussehen – ganz zu schweigen vom Ton. An der forcierten Infantilität vieler neuerer Western zeigt sich aber immerhin, daß, auch wenn jetzt Postmoderne ist, nicht mit jeder Mythologie nach Belieben herumgespielt werden kann.

Schon eher eignet sich dafür der Abenteuerfilm, dessen Helden, von Tarzan bis Indiana Jones, gar nicht anders können, als zwischen Kino und Kinderzimmer hin- und herzupendeln. Im Unterschied zum Western kennt der Abenteuerfilm weder geographische noch historische Bindungen; und er beutet die verschiedenen Mythologien aus, ohne jemals eine eigene zu entwickeln. Zwar kommen beispielsweise die drei Musketiere alle paar Jahre wieder neu ins Kino, doch niemand (auch Seßlen nicht, der da schon ausgesprochen tolerant ist) wird diesen Filmen nachsagen wollen, sie würden sich an einem Mythos abarbeiten.

Spezialeffekte statt Schwarzenegger

Angesichts eines massiven Aufgebots an Spezialeffekten hilft den Helden der neueren Abteuerfilme irgendwann auch kein Schwarzeneggerscher Stumpfstoizismus (in der Nachfolge des wortkargen Westerners) mehr. Obwohl fit und hochmotiviert, wirken die Heldenkörper öfters unterbeschäftigt, um nicht zu sagen: überholt; zum Ausgleich dieser Verlegenheit bekommt ihr Spiel dann etwas Ironisches. Schade, daß diese Aspekte mythischer Körperlichkeit bei Seßlen kaum Beachtung finden. Man wird alles in allem den Verdacht nicht los, das Buch über dieses Genre sei nur der Vollständigkeit wegen geschrieben worden.

Während die Helden des Abenteuerfilms fernab der kapitalistisch-bürgerlichen Welt agieren (als Gladiatoren, Ritter, Freibeuter usw.) oder auf der Flucht vor ihr sind (im Urwald, auf Schatzsuche usf.), muß die Figur des Detektivs genau in dieser Welt seiner Beschäftigung als Aufklärer nachgehen. Sofern es sich bei dieser Figur nicht um den kleinbürgerlich durchgeknallten Aufräumer à la Mike Hammer handelt, kann er dabei nicht als Kampfmaschine durch die Gegend laufen. Was das Genre des „bürgerlichen Helden par excellence“, so Seßlen, an Figuren zu bieten hat, schwankt zwischen dem Urbild mit dem großen Durchblick: Sherlock Holmes und dem mit dem Einzelgängern eigenen kleinen, aber entscheidenden moralischen Vorsprung: Philip Marlowe.

Wie die Entwicklung des Detektivfilms zeigt, stoßen die Helden bei ihren aufklärerischen Bemühungen, sofern sie ihre Intelligenz nicht nur für spleenige Einzelfälle vergeuden, auf zunehmende Schwierigkeiten: dem auf sich selbst gestellten Helden muß die Welt eben nicht nur reichlich verdorben, sondern auch überaus komplex vorkommen. Zur Gegenwart fällt dem Genre jedenfalls kaum noch etwas ein. Viele der neueren Detektivfilme (etwa seit Polanskis „Chinatown“ von 1974) ziehen es vor, in ihren slicken Bildwelten die Zeit des Film noir zu verewigen. Seit dieser Blütezeit des Genres mußten die Helden – gelinde gesagt – „gebrochen“ wirken, damit man ihnen ihre Geschichte überhaupt abnimmt. „Sie haben es mit dem letzten Vertreter einer aussterbenden Spezies zu tun, nach wie vor unbestechlich und nach wie vor pleite“, hört man James Garner Ende der sechziger Jahre als Philip Marlowe reden, bevor er dann als Detektiv Rockford („Anruf genügt“) im Fernsehen Beschäftigung fand.

Anders als der Detektivfilm ist der Thriller ein Genre, das sich im Kino erfolgreich behaupten konnte. Im „Kino der Angst“, das Seßlen sehr engagiert darstellt, wird Aktualität garantiert. Dabei kann der Thriller gut auf das Repertoire an wiederkehrenden Helden verzichten. Er muß es sogar, denn die mythologischen Krisen, von denen er handelt, taugen nicht als Bewährungsprobe. Es geht um Figuren, die von sich glauben, sie wären einigermaßen normal, aber plötzlich in eine Lage geraten, in der sie eine „gefährliche Wandlung“, so der Schlüsselbegriff Seßlens, durchmachen müssen. Und plötzlich stellt sich ihnen die Welt, die innere und äußere, ganz anders dar. Sie bietet, innen wie außen, keinen Halt mehr. Klassisches Beispiel: Jemand gerät in den Verdacht, ein Verbrechen begangen zu haben.

Die Krise zeigt sich im Klischee

Wie nicht anders zu erwarten, bringen die meisten Filme diese Krisen am Ende wieder einigermaßen in Ordnung, doch zuvor – und hierin besteht die Größe dieses Genres, auch wenn keine Meister wie Hitchcock oder Fritz Lang am Werk waren – erhält die bürgerliche Subjektivität (bzw. deren mehr oder weniger legitime Erben) hier die Gelegenheit, im Zeichen der Angst ganz erstaunliche Delirien durchzuspielen. Und zwar immer auf der Höhe der jeweils aktuellen Stereotypen und Klischees! – wovon man sich spätestens auf den letzten 100 Seiten des Thrillerbuchs überzeugen kann. Dort läßt Seßlen Revue passieren, was sich in diesem Genre seit Anfang der achtziger Jahre getan hat. Wahnsinn, was für ein Terror in Filmen wie „Fatal Attraction“, „Ein mörderischer Seitensprung“, „Der Preis der Lust“, „Flirt mit dem Tod“, „Basic Instinct“, „Fremde Schatten“, „Falling Down“ entfesselt wurde. Terror muß dabeisein! Denn wie sonst sollten die Charaktere, von denen die meisten aus dem Typenarsenal der Angestelltenkultur stammen, sonst zu verstehen geben, daß sie es diesmal mit ihren Verhängnissen und Verstrickungen verdammt ernst meinen und nicht wie sonst als Komödie rüberkommen wollen? Zugegeben, das Leben im Herzen des Kapitalismus kann auch im Kino nicht immer nur lustig aussehen. Aber so überaus fatal brutal? – mußte es wohl in Filmen zugehen, gibt Seßlen zu bedenken, die einer Mittelschicht aus dem Herzen sprechen, die sich nicht mehr, wie noch „eine Generation zuvor, als gesichertes Zentrum der Gesellschaft wähnen durfte“.

Solche sozialpsychologisch angehauchten Erklärungen hat Seßlen öfters zur Hand. Macht aber nichts, denn neben diversen Banalitäten gibt es im Buch zum Thriller auch eine Menge luzider Momente: Es arbeitet mit einem filmischen Beweismaterial, das immer noch hochgradig mythisch verstrahlt wirkt. Also Vorsicht: „Der Feind ist der Nächste, der Feind steckt in jedem selber, er lauert in der Familie, in der eigenen Seele, im Spiegelbild“, liest man etwas im abschließenden Überblick und fragt sich spätestens dann, ob das jetzt bloß Kino oder Kritik oder Wirklichkeit sein soll, bis einem einfällt, daß im Einflußbereich des Mythos solche Unterscheidungen ja nie besonders genau genommen werden.

Statt, wie zur Zeit Hitchcocks, tiefenpsychologische Erklärungsmodelle unters Volk zu bringen, verfolgt der neuere Thriller eine Politik der Schuldverteilung, die auf die verschiedenen Empfindlichkeiten des Publikums Rücksicht nimmt. Die alte Unterscheidung von Täter und Opfer behält zwar ihr Recht (schon um die Orientierung in dieser krisengeschüttelten Welt nicht noch übermäßig zu erschweren), doch gleichzeitig wird auf eine gewisse Ausgewogenheit Wert gelegt: Gern gesehen sind Charaktere, die flexibel genug erscheinen, um mal die Position der Unschuld, dann wieder den Part des Bösen zu übernehmen. Was trotz der Tendenz zur permanenten mythologischen Deregulation noch eine gewisse Verläßlichkeit bietet, nennt Seßlen einmal nebenbei die „moralische Ökonomie des Genres“. Pointierter kann man eine Krisenmythologie kaum bezeichnen, in der sich vieles ändern kann, solange sich alles um das zweideutige Prinzip der Abrechnung dreht, demzufolge „am Ende jeder bekommt, was er verdient“.

Georg Seßlen: „Geschichte und Mythologie des Westernfilms“, „Thriller: Kino der Angst“, „Detektive: Mord im Kino“, „Abenteuer: Geschichte und Mythologie des Abenteuerfilms“. Schüren Presseverlag, Marburg 1995–1998, alle 38DM